Einige polnische Zeitungen freuen sich, dass es die polnische Künstlerin Alicja Kwade in Berlin gibt…
Ich will nicht in Schubladen gesteckt werden. Natürlich bin ich in Polen geboren, lebe aber seit meinem achten Lebensjahr in Deutschland, doch das ist nicht so wichtig. Ich bin Polin und Deutsche, aber keine nationale Künstlerin! Diese Fragen finde ich auch sehr nebensächlich, denn ich habe keinerlei Bezug zum nationalen Sentiment, danach möchte ich nicht kategorisiert werden.
Du stammst aus einer kunstinteressierten Familie. Deine Eltern hatten früher eine Galerie in der polnischen Stadt Katowice (Kattowitz), wo du 1979 geboren wurdest.
Die Galerie hatte mein Vater. Meine Mutter war Professorin für Kulturwissenschaft, Kulturkommunikation und Slawistik an der Universität Kattowitz, was natürlich auch einen starken Einfluss auf mich hatte.
Mit acht Jahren warst du dann mit deinen Eltern nach Hannover gezogen. Konnten sie dort in ihren erlernten Beruf arbeiten?
Teilweise. Weil Polen damals zum Ostblock gehörte, war mein Vater automatisch sehr auf die polnische Kunstszene bezogen, die wiederum sehr auf sich selbst bezogen war. Die deutsche Kunstszene war schon damals sehr stark, der Einstieg wäre nicht möglich gewesen. Er hat zuerst in einem Auktionshaus gearbeitet und arbeitet jetzt als Restaurator, was sein erlernter Beruf ist, denn er ist Kunsthistoriker und Restaurator. Meine Mutter arbeitet als Polnisch- und Russischlehrerin an unterschiedlichen Schulen, schreibt aber auch für verschiedene multikulturelle Blätter.
Du wolltest in Hannover nicht auf Dauer bleiben. Warum?
Das war ja nur eine unfreiwillige Zwischenstation. Hannover ist zwar eine schöne Stadt, aber wenn man 18 ist, hat man Träume, nach New York, London, Paris oder Berlin zu gehen und nicht das Leben in einer Stadt zu verbringen, wo man zur Schule gegangen ist!
War es schwer, in Berlin Fuß zu fassen? Hattest du Bekannte, die dir dabei halfen, oder warst du auf dich allein angewiesen?
Nein, ich hatte hier gar nichts, keine Kohle und kannte hier keinen, aber dadurch, dass es Stipendien, BAFÖG gibt, konnte ich relativ schnell anfangen, in Berlin zu studieren unter Gleichgesinnten, die auch alle von irgendwo hierher kamen.
Du hast bis 2005 an der Universität der Künste (UdK) Bildhauerei studiert. Was verdankst du dem Studium? Ist es heute überhaupt noch notwendig, Kunst zu studieren, um als Künstlerin tätig zu sein?
Das ist die ewige Frage, ob man Kunst studieren sollte oder nicht. Ich glaube, das braucht man nicht, das Studium ist keine Voraussetzung, um Kunst zu machen, aber ich fand es gut, um mich ein bisschen zu strukturieren, um zu merken, wie mache ich was, wie stelle ich eine Mappe zusammen, wie kriege ich einen Sockel gebaut, wie kriege ich eine große Skulptur finanziert. Während des Studiums hat man innerhalb kürzester Zeit die Möglichkeit, ganz viele Menschen zu treffen, mit denen man diese Probleme erarbeiten kann. Das könnte man sicherlich auch allein, was aber viel umständlicher und mühsamer wäre.
Das Kunststudium ist also nicht so sehr das Erlernen des Kunstfachs, sondern man lernt dabei auch viele praktische Dinge, von der Herstellung der Objekte bis zu ihrer Vermarktung, also wie bringe ich meine Arbeiten an die Galerie?
Die Vermarktung gar nicht so sehr, sie steht ja am Ende des Prozesses. Von der Idee zur Herstellung und dann zur Vermarktung ist ein langer Weg. Wenn man das Ding nicht hinstellt, dann existiert es nicht, erzählt nichts. Es geht darum, dass man lernt, praktische Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel: soll der Sockel ein Meter oder ein Meter fünfzig haben, warum entscheide ich das so und nicht anders, was geht technisch und was nicht, wo kriege ich das Material her, kann man es brennen, kann man es schweißen? Das sind Sachen, die man früher gar nicht weiß und die man lernt, so wie das, als Student mit sehr wenigen Mitteln zurecht zu kommen, also wie man Dinge realisiert, die man eigentlich nicht realisieren kann.
Du hast 2008 den angesehenen Förderpreis für Skulptur der Kulturstiftung Hartwig Piepenbrock bekommen, verbunden mit einer großen Ausstellung im Hamburger Bahnhof – dem Berliner Museum für Gegenwart. Damals warst du 29 Jahre alt. Welche Bedeutung und welchen Einfluss auf deine weitere Laufbahn hatte diese Auszeichnung?
Dass ich unmittelbar danach mit neuen Galerien anfing zu arbeiten, was früher nicht der Fall war, was gut ist für mich, denn es bringt eine andere Professionalität mit ins Spiel. Mit dem Hamburger Bahnhof ging es eigentlich los. Seitdem gab es mehr Interesse an meiner Kunst, mehr Menschen sind auf sie aufmerksam geworden.
Durch deine erste große Einzelausstellung „Von Explosionen zu Ikonen“ (2008) im Hamburger Bahnhof hast du die Möglichkeit bekommen, mit deiner Kunst einen riesigen Raum mit über tausend Quadratmetern zu bespielen…
Genau 1290 Quadratmeter.
War das schwierig für dich? Oder dachtest du schon damals in so großen Dimensionen?
Das hat mich sehr gefreut, meinetwegen könnten es auch dreitausend Quadratmeter sein! Was aber an dem Raum nicht ganz einfach ist, dass er diese Säulen hat rechts und links. Er sieht ein bisschen wie ein Kirchenschiff aus: rechts, links und Mitte. Das ist nicht einfach zu knacken, aber wenn man es früh genug weiß und sich das überlegen kann, gelingt es meistens. Man hat immer gewisse Einschränkungen, aber auch Vorteile – je nach Raum. Das ist halt so.
Jedes Jahr verlassen die UdK Berlin Hunderte von Absolventen, aber nicht jeder wird so schnell so erfolgreich wie du. Wovon hängt der Erfolg in der Kunst ab?
Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage, denn, wenn man das Rezept wüsste wie es geht, würde man alles richtig machen! Ich glaube, dass ist eine Mischung aus ganz viel Glück, in meinem Fall kommt das auch durch ganz viele, auch ältere Freunde, die alle Künstler sind und die mich immer sehr unterstützt haben und durch die andere überhaupt auf mich aufmerksam geworden sind. Man muss es auch wollen und das durchziehen können, was man will. Es hat vielleicht auch etwas mit Kommunikation zu tun, man muss seinen Mund manchmal aufmachen und dorthin gehen, wo Leute sind.
Wie gehst du mit dem Erfolg um? Hat er etwas in deinem Leben verändert?
Ich glaube nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich verbittert wäre, wenn ich keinen Erfolg hätte. In meiner Lebensweise hat sich überhaupt nichts geändert. Ich sitze sowieso den ganzen Tag im Atelier und arbeite, das habe ich früher auch gemacht. Früher musste ich noch nebenbei jobben, ich habe lange beim Berliner Künstler Anselm Reyle gearbeitet als Assistentin, ich war auch Security Guide bei der Berlinale, ich habe in Kneipen gearbeitet und auch Schuhe verkauft.
Bist du sehr diszipliniert?
Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich es mal nicht bin. Deshalb nehme ich an, dass ich es eher bin, denn es geht mir ganz schlecht, wenn ich das Gefühl habe, ich war mal faul.
Stehst du früh auf?
Es kommt darauf an, wie viel Arbeit ich habe, dann stehe ich um acht Uhr morgens in den Startlöchern, im Atelier. Wenn ich ein paar Ausstellungen hinter mir habe, bin ich halt auch mal zwei Wochen faul danach.
Dein Bruder betreibt die Galerie Kwadrat in Berlin. Stellst du dort aus?
Manchmal bei Gruppenausstellung, doch es geht eigentlich nicht, denn ich bin mit einer anderen Galerie verbunden. Wir unterstützen uns aber gegenseitig, bei ihm stellen viele meiner Freunde aus.
Du wirst gegenwärtig von der Galerie Johann König vertreten. Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit?
Sie erfolgt in gegenseitiger Absprache. Ich sage der Galerie, was ich gern tun würde, und sie sagt mir, was möglich ist. Sie hat selbstverständlich viel mehr Möglichkeiten als ich. Für mich ist diese Zusammenarbeit sehr gut.
Bist du der Galerie Johann König lebenslang ausgeliefert?
Nein! (lacht). Ich habe ja keinen Vertrag unterschrieben, ich kann gehen, wann ich will. Das ist alles so eine mündliche Geschichte, auch eine gegenseitige Vertrauenssache, denn, wenn man sich gegenseitig nicht vertraut, macht das alles nicht so richtig Sinn. Es muss so laufen, dass man nicht ständig etwas überprüft und hinterher rennt, sondern ich vertraue ihnen hundertprozentig und sehe an den Ergebnissen, dass es für mich gut ist. Ich hoffe, dass dies noch ganz lange so bleibt.
Du bist gelernte Bildhauerin, arbeitest aber multimedial, machst Objekte, Installationen, Videofilme, Fotos, Collagen. Wie definierst du dich als Künstlerin?
Formal gebe ich mir eigentlich keine Einschränkungen, was aber nicht ganz stimmt, denn ich male nicht, ich kann es auch nicht besonders und ich sah bislang nicht die Notwendigkeit dazu. Ich gehe immer von einem Konzept, einem Gedanken aus, den ich verwirklichen möchte und dann sozusagen den besten Weg suche, wie man das kann. Ich versuche also, immer den kürzesten Weg zu nehmen, das heißt, wenn ich etwas mit Licht machen möchte, wenn ich zeigen möchte, wie sich Licht im Raum bewegt, dann mache ich eine Fotografie, weil das für mich das unmittelbarste Medium dafür ist. Wenn ich den zeitlichen Ablauf zeigen möchte, mache ich ein Video, weil das das unverfälschteste Medium ist, um Bewegungen zu zeigen. Oder wenn ich etwas mit Fundstücken, mit objets trouvés mache, dann ist es für mich Nonsens, das Objekt zu fotografieren, denn das ist ja das Objekt selber. Ich versuche also, so wenig wie möglich dazu zu sagen.
Du hast in einem Interview behauptet, dass sowohl Video als auch Fotografie Skulptur sein können. Wie soll man das verstehen?
Was heißt Skulptur? Skulptur bezieht sich ja immer auf den Raum, sie ist ein dreidimensionales Ding in einem Raum. Wenn ich zum Beispiel auf einem Foto eine Kerze auf einem Tisch bewege von vorne nach hinten, übe ich eine Bewegung über einen zeitlichen Moment in einem Raum aus, was eigentlich die Definition von Skulptur ist: an einem Ort eine dreidimensionale zeitliche Bewegung.
Du bist eine Künstlerin, die Konzepte entwirft, an deren Realisierung viele Menschen und Firmen beteiligt sind. Arbeitest du mit ihnen in einem Team, wie etwa Ólafur Elíasson, der ein Unternehmen gegründet hat, um seine Kunstprojekte zu verwirklichen?
Ich arbeite sehr viel mit unterschiedlichen Firmen zusammen, denen ich Arbeiten oder Teile davon in Auftrag gebe. Sie erledigen die technischen Dinge und liefern mir genau das, was ich wollte. Eine ständige Teamarbeit im Atelier versuche ich weitgehend zu vermeiden, ich mag das nicht, es geht mir schlicht und einfach auf die Nerven, wenn ich ständig andere Leute um mich habe. Ich empfinde das so: man kann sich nie so gehen lassen wie man gerade Lust hat. Für mich ist Teamarbeit mental zu anstrengend. Ich bin aber auf andere Leute angewiesen, was teilweise sehr nett ist, ich habe zehn Leute, die ich immer anrufen kann und die dann kommen, um mir zu helfen. Ich habe jemanden, der mir bei der Büroarbeit hilft, weil ich das noch viel weniger mag als alles andere.
In deiner Kunst spielen Kohlebriketts eine gewisse Rolle. Hängt das vielleicht damit zusammen, dass du deine Kindheit in der polnischen Stadt Kattowitz im Oberschlesischen Steinkohlebecken verbracht hast?
Nicht bewusst, das hat mit meiner Kindheit eigentlich wenig zu tun, weil mich das in einem anderen Zusammenhang interessiert.
Für deine Kunst suchst du dir „einfache“, „arme“ Materialien aus: Steine, Kohle, Uhren, also Dinge, die so banal und offensichtlich sind, dass man sie im Alltag nicht mehr wahrnimmt. Du verleihst ihnen durch den Schliff oder die Vergoldung den Anschein von etwas Kostbarem, Wertvollem. Ein auf der Straße gefundener Stein sieht wie ein Juwel, ein Kohlebrikett wie ein Goldbarren aus. Was möchtest du damit bezwecken?
Es geht gar nicht darum, aus nicht wertvollen Sachen wertvolle zu machen, da werde ich manchmal missverstanden. Es geht nicht darum, dass ich 24-Karat-Gold benutze, um etwas nicht Wertvolles wertvoll zu machen, sondern es geht um symbolisch aufgeladene Dinge, die halt jeder lesen kann. Jeder weiß ja, was Kohle ist, woher sie kommt und was man damit macht. Jeder weiß, was Gold ist und was es wert ist. Mit dieser Zusammenstellung erziele ich ganz schnell etwas, was eigentlich für jeden verständlich ist. Mich interessiert, warum man das so schnell lesen kann. Weil das gesellschaftliche Vereinbarungen sind, die existieren. Man erkennt es an der Form, dass etwas wertvoll ist. Man selber gibt den Dingen den Wert. Der Schliff macht den Kieselstein nicht wertvoll, sondern unsere Interpretation der Form, wie die eines Diamanten.
Das stimmt, aber dadurch, dass du Kieselsteine zur Kunst erklärst, werden sie auch zu etwas Wertvollem.
Ja, klar, aber zur Kunst werden sie auch eben durch den Betrachter, die Situation und den Kontext.
In deinen Arbeiten kommen auch Flaschen als Kunstobjekt vor – allerdings in einer etwas ungewohnten Form. Ich denke dabei an „412 Liter bis zum Anfang“, ein Hügel aus 555 kg leeren, gemahlenen Champagnerflaschen von 2008 sowie an „3752,35 kg bis zum Anfang“ von 2009 mit 1000 pulverisierten Wodkaflaschen. Hast du sie alle vorher selbst getrunken?
Nein, alle diese Flaschen kommen aus einem bestimmten Restaurant, das ich mir aussuchte in einer bestimmten Zeit, die ersten waren vom Berliner Grill Royal, die letzten vom Cookies. Sie sammelten für mich alle Flaschen, die dort getrunken wurden; die Wodkaflaschen z.B. vom 1. Januar bis zum 28. September.
Wo hast du diese Sekt- und Wodkaflaschen mahlen lassen?
In einem Hightech-Unternehmen in Freiberg im Erzgebirge, die sind spezialisiert, Sachen zu trennen und zu mahlen. Sie können zum Beispiel Sand trennen in 20 verschiedene Körnergrößen, oder sie mahlen Sachen mikroskopisch klein, damit man sie in Laboren untersuchen kann. Wenn ein neuer Stoff entwickelt werden soll, so wird er zerkleinert, damit man chemische Proben machen kann.
Was kostete es, diese Flaschen zu mahlen?
Ich weiß nicht mehr so genau, der kleine Flaschenberg, der im Hamburger Bahnhof gezeigt wurde, kostete, glaube ich, 2700 €.
Ein häufiges Thema deiner Kunst ist die Zeit, Uhren spielen in deinen Arbeiten eine große Rolle. Woher kommt dieses Interesse angesichts deines Alters, in dem man sich eher keine Gedanken über die Vergänglichkeit macht?
Doch, die Zeit ist eines jener Dinge, die man eigentlich keine Chance zu begreifen hat, obwohl sie da sind. Mich interessiert vor allem die Richtung, warum es in die eine Richtung geht, obwohl es theoretisch auch in die andere Richtung gehen könnte. Ähnlich wie in meinen „Bordsteinjuwelen“ und den Goldarbeiten geht es mir um die Vereinbarung, dass es eben diese Uhr gibt, die dabei hilf, eine Struktur in der Realität zu finden.
Woher stammen die Uhren, die du in deiner Kunst verarbeitest?
Ich komme nicht so dazu, auf Flohmärkte zu gehen, ich ersteigere sie meistens bei eBay, das ich sowohl auf Polnisch, Deutsch und Englisch benutzen kann. Das ist wesentlich effektiver.
In deinem Videofilm „Ein Tag in 7 Minuten und 23 Sekunden“ von 2006 gehst du einen anderen Weg als Douglas Gordon, der den Film „Psycho“ von Alfred Hitchcock auf 24 Stunden ausgedehnt hatte: Du lässt mehrere Filme, in denen Uhren vorkommen, auf etwas über sieben Minuten Länge schrumpfen. Warum?
Ich kenne die Arbeit von Douglas Gordon, ich habe mich nicht auf sie direkt bezogen, aber ich glaube, das ist eine ähnliche Methode, den Moment zu verlängern oder zu verkürzen. In meinem Film gibt es mit Absicht ganz verschiedene Zeiten. Es durchläuft so ein Tag, es sind nie Menschen zu sehen, aber man sieht oft einen Schwenker durch den Raum, dann erkennt man, das sind die 1920er oder das sind 1980er Jahre und passend dazu ist auch die Uhr, die aus dieser Zeit stammt. Dadurch kommt eine doppelte Ebene ins Spiel, dass aus ganz verschiedenen Zeiten ein Tag konstruiert wird, der sieben Minuten 23 Sekunden dauert. Man hört die Uhr ständig ticken, aber nur zweimal eine menschliche Stimme, die nach der Zeit fragt oder die Zeit ansagt.
In deinen letzten Arbeiten setzt du dich mit kosmischen Dingen, mit Planeten und Schwarzen Löchern auseinander. Woher kommt dieses Interesse?
Schwer zu sagen. Mein Interesse gilt eigentlich schon seit immer Sachen, die ich nicht begreifen kann. Ich glaube, das geht allen Menschen so. Das ist eigentlich diese Ohnmacht vor dem Unbegreiflichen, die immer da ist, und dass alles auf dieser Erde darauf hinausgeht, warum sich alles gerade so abspielt, wie es sich abspielt. Ich denke, das ist ein menschlicher Urinstinkt, hinterher zu rennen und zu versuchen, über seinen Erkennungshorizont zu schauen. Was aber irgendwann zum Scheitern verurteilt ist, weil man mit seinem Säugetiergehirn so weit nicht kommt. Irgendwann kommt man also immer an das Ende seiner Kapazität.
Kann man sagen, dass du versuchst, das Große im Kleinen zu finden und das Kleine im Großen? Siehst du in den Dingen, mit denen du dich künstlerisch befasst, kosmische, überirdische Dimensionen und versuchst sie gleichzeitig, auf die Erde zurückzubringen?
Ja, denn das hängt eben mit den Strukturen zusammen. Ich sehe die Realität nicht als etwas Absolutes, sondern als eine Möglichkeit von vielen. Genauso sehen Dimensionen in zeitlichen Momenten oder in bestimmten Räumen sozusagen je nach Betrachtungsweise vollkommen anders aus.
Du hattest in diesem Jahr eine Einzelausstellung mit dem Titel „Erfahrungshorizont“ in der Kestnergesellschaft in Hannover (9.04.-24.05.) und fast parallel zu ihr eine zweite im Westfälischen Kunstverein in Münster (24.04.-27.06.) mit dem Titel „Probleme massereicher Körper“. Bist du mit den beiden Ausstellungen zufrieden?
Klar, aus verschiedenen Gründen. Ich fand es super, in der Kestnergesellschaft in Hannover auszustellen, weil ich dort lange gelebt habe. Der Raum war zwar der undankbarste, unten im Erdgeschoss, und auch nicht so einfach zu knacken, aber ich glaube, das habe ich ganz gut gelöst, was für mich ein Erfolgserlebnis war, in einem nicht so einfachem Raum eine gute Ausstellung zu machen. Die Zusammenarbeit mit der Kestnergesellschaft war auch super. In Münster war das so ähnlich, dort waren noch schwierigere Räume, eine ehemalige Tanzschule, die Räume waren eigentlich ganz unmöglich zu bespielen. Ich habe mir überlegt, ob ich es überhaupt machen kann, und dann als einzige Möglichkeit gesehen, das Licht auszumachen. Dort habe ich eine dreifache Videoprojektion und Lichtinstallation und noch eine andere Arbeit gezeigt im dunklen Raum, sodass halt alles im Endeffekt sehr gelungen war.
In einer deiner neuesten Arbeiten „Parallelwelt (Ast/AntiAst)“, die in der Ausstellung „Ereignishorizont“ in der Kestnergesellschaft zu sehen war, zeigtest du zwei Äste, von denen der eine tatsächlich echt, während der andere eine aufwendig gespiegelte Nachbildung war, was man aber nicht gleich merkte. Ist es ein Hinweis darauf, dass man heute zwischen Bild, Abbild und Nachbild noch weniger unterscheiden kann als bisher?
Das spielt automatisch auch eine Rolle, aber eine untergeordnete. Bei den Ästen ist noch wichtiger, dass man simultan nur einen sehen kann. Dabei geht es vor allem darum, wie man seine Realität oder eine Wahrheit versucht zu überprüfen. Man rennt dann automatisch von einem zum anderem und versucht festzustellen, welcher der richtige und welcher nicht der richtige ist, aber man ist dazu nicht imstande, weil man höchstens zehn Sekunden hat, um sich das zu merken, und dann muss man das Gesehene auf dem Weg zum anderen ja noch im Kopf spiegeln, und bis man beim anderen angekommen ist, weiß man das nicht mehr. So ist man seinen Einschränkungen überlassen, Tatsachen nicht erkennen zu können, man muss seiner Intuition und seinem Glauben glauben.
Was machst du, wenn du dich nicht mit Kunst oder nicht mit anderen wichtigen Problemen beschäftigst?
Ich mache Dinge, zu denen ich sonst nicht komme. Ich baue Regale in meiner Wohnung auf, lese etwas, kaufe ein: lauter praktische Sachen.
Was hast du gerade gelesen?
„Die Entdeckung des Schattens“ von Roberto Casati, ein sehr gutes Sachbuch, es fängt mit naturwissenschaftlichen Betrachtungen an und dann geht es über die griechische Mythologie zur Kunstgeschichte.
Liest du auch Romane?
Ja, manchmal im Urlaub, sonst nicht. Da guck ich lieber Fernsehen. Ich gucke nie so, dass ich mich davor setze, aber ich muss das immer machen, bevor ich einschlafe. Dann ziehe ich es eine halbe Stunde durch.
Alicja, vielen Dank für das Gespräch!
Fragen & Foto © Urszula Usakowska-Wolff, 27. Mai 2010
Erschienen in MATRIX – Zeitschrift für Literatur und Kunst, 2/2010 (20) und in gekürzter Form im strassen|feger 23/2010
Das Interview auf Polnisch im Kwartalnik Orońsko Nr. 2/2010 >>>