Es ist dunkel in der großen Halle, so dunkel, dass man sich nur langsam und konzentriert vortastet, um die Orientierung nicht zu verlieren. Nur einige wenige Strahler stehen auf dem Parkett, ziehen die Blicke des Publikums an, blenden. Drei digitale Uhren mit grünen Ziffern zeigen, dass die Zeit wie gewöhnlich läuft. Ungewöhnlich sind, was erst beim genauen Hinschauen auffällt, die Sekundenzähler, weil ihre Zeitangaben geringfügig von der Echtzeit abweichen. Wie spät ist es wirklich? Kommt es tatsächlich auf die Sekunde an? Gibt es überhaupt so etwas wie Echtzeit? Doch die Aufmerksamkeit richtet sich zunehmend auf die geometrischen Figuren, die in der Mitte des Raumes stehen. Transparenten Kästen ähnlich, sehen sie wie weiße Rahmen aus, Gerüste oder Zellen, in denen es keine Abgrenzung zwischen außen und innen gibt. Durch die Schatten, die sie auf die Wände werfen, vervielfältigen sie sich im Raum, lassen ihn riesig, fast endlos erscheinen.
Die Halle ist eine Höhle
Das Bühnenbild der Performance unter dem Titel Alone Together, die am 3./4. und 10./11. September im Deutschen Architekturzentrum Berlin gastiert, ist gleichermaßen fragil, minimalistisch und monumental. Es verwandelt seine große Halle in eine dunkle Höhle, in der – fünf Stunden lang – fünf Tänzerinnen: Anna Anderegg, die die Schau konzipierte und choreografierte, Ixchel Mendoza Hernandez, Hyoung-Min Kim, Laureline Richard und Nina Willimann agieren. Sie bewegen sich leise auf leuchtenden Sohlen und wirken, als schwebten sie über dem Boden wie in einer Séance. Das Medium, mit dem die zierlichen Tänzerinnen kommunizieren, ja geradezu verschmelzen, sind aber nicht die Geister der viktorianischen Zeit, sondern Smartphones und Laptops mit dem strahlenden Logo des angebissenen Apfels: Reliquiare des heutigen Zeitgeistes. Köpfe mutieren zu Monitoren, Monitore zu Körpern, Körper zu Monitoren auf Füßen. Es gibt offensichtlich keine Grenzen mehr zwischen dem analogen und digitalen Körper und somit zwischen dem analogen und digitalen Raum.
Gemeinsam allein sein
Alone Together offenbart die verführerische Kraft und die zwanghafte Nutzung der digitalen Medien. Im weltumspannenden Netzwerk fühlt sich das Individuum gut aufgehoben als Teil einer globalen Gemeinschaft, die seine Bedürfnisse nach Nähe, Kommunikation, Unterhaltung, heiteren und ernsten Dingen des Lebens befriedigen soll. Das ist bekanntlich eine Illusion, aber eine schöne, denn der einzelne Mensch, mit Handy, Laptop, iPad oder Tablet ausgerüstet, erliegt dem Schein, nie und nimmer allein zu sein. Millionen Menschen tun es ihm gleich. Sie wähnen sich nicht einsam, doch sie vereinsamen gemeinsam. Sie verbringen die meiste Zeit in der virtuellen Welt und sind zunehmend unfähig, mit der analogen in Kontakt zu treten. Das illustriert die einprägsame und vielschichtige Schau Alone Together mit suggestiven, einprägsamen Bildern: Im Gegensatz zum rasenden und pulsierenden Sound (von Marco Barotti) bewegen sich die Tänzerinnen mal außerordentlich langsam – wie in Zeitlupe – mal sind ihre Aktionen abrupt oder hektisch, entrückt und ephemer. Auch wenn sie zu zweit, zu dritt, zu viert oder zu fünft auftreten, sind sie nicht imstande, eine Beziehung zu den anderen Protagonistinnen aufzubauen. In ihren Kästen wie in PC-Knästen gefangen, stehen, sitzen und liegen sie, jede für sich allein und fast immer mit Handys als Verlängerung der Hände. Wenn sie ihre Zellen verlassen, verlieren sie die Balance, taumeln, verrenken ihre Körper und fallen. Ihre LED-Sohlen flackern wie Irrlichter, spiegeln sich gespenstisch im Parkett.
Platons Philosophie so aktuell wie noch nie
Das Publikum ist ein Teil der Performance, die in einer Endlosschleife, doch jedes Mal etwas anders, aufgeführt wird. Es folgt den Tänzerinnen, umkreist die Halle und die Konturen der Kästen-Knäste, wirft Schatten auf die Wände, so ähnlich wie in Platons Höhlengleichnis. Das will wohl heißen: Wir leben heute in einer Scheinwelt, die die Parabel des antiken griechischen Philosophen aktueller denn je erscheinen lässt. Das, was sich auf der Höhlenwand (also auf dem Monitor) ereignet, wird für wahr und wirklich gehalten. Dinge verdrängen Ideen; Bilder verdrängen Bilder im Vorraum des Deutschen Architekturzentrums Berlin, wo ein Kurzfilm als Teil von Alone Together ausgestrahlt wird. Urbane Großwohnsiedlungen vermischen sich darin mit Interieurs, in denen die Tänzerinnen samt ihren obligatorischen digitalen Gadgets verweilen. Wie in einem Trailer wird der Schnitt immer schneller, alles flackert vor den Augen wie in einem wild gewordenen Kaleidoskop, löst sich auf und ab, ganz ohne Stopp, denn auch der Einsam-Gemeinsam-Film läuft im Loop.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Alone Together
Performance & Film
Samstag/Sonntag 3./4. September 2022
Samstag Sonntag, 10./11. September 2022
jeweils 15 bis 20 Uhr
Tickets kosten 10 EUR, ermäßigt 8 EUR
Deutsches Architektur Zentrum DAZ
Wilhelmine-Gemberg-Weg 6, 10179 Berlin