Ein Großteil der Ausstellung »Time ist out of joint« von Boris Mikhailov in der Berlinischen Galerie ist seinen in der Sowjetunion entstandenen Fotoserien gewidmet.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Als der Ingenieur Boris Mikhailov Mitte der 1960er Jahre den unansehnlichen Alltag seiner Heimatstadt Charkiw zu fotografieren begann, deutete nichts darauf hin, dass er in einer nicht so weit entfernten Zukunft zu einem Aufsehen erregenden und international gefeierten Fotokünstler aufsteigen wird. Die Welt, in der er über die Hälfte seines Lebens verbrachte, war die Sowjetunion, das scheinbar unverwüstliche und ewig bestehende rote Imperium, dessen ideologische und territoriale Grenzen nicht überschritten werden durften. Der allgegenwärtige Staat war bemüht, jeden Schritt und jede Aktivität seiner Bürger zu kontrollieren. Er bestimmte auch über die Form und die Inhalte der Kunst. Kunst – das bedeutete Sozialistischer Realismus in der Malerei und der Skulptur, also figürliche Darstellungen von Werktätigen und Kolchosniki mit großen Händen und kleinen Köpfen. Das war der Neue Mensch, ein Malocher, der sich keine Gedanken über den Sinn seiner Arbeit und seines Lebens in einer Mangelgesellschaft machen sollte. Denn in der sowjetischen Planwirtschaft fehlte es an allem, an Wohnungen und Waren des täglichen Bedarfs, dagegen gab es einen Überfluss an beschönigenden Worten und Bildern. Je länger die Schlangen vor den Geschäften wurden, desto größer wurde der propagandistische Aufwand, um die Wirklichkeit schön zu reden und schön zu zeigen. Dass die Wirklichkeit hässlich, grau und ein Kampf um die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse war, spielte keine Rolle. Die an der Propagandafront kämpfenden Fotojournalisten lieferten ja die richtigen Bilder.
Illegal von hinten
Fotografen, die unverfälschte Bilder des sowjetischen Alltags im real existierenden Sozialismus knipsen wollten, waren unerwünscht. Fotografieren auf der Straße war nur mit einer amtlichen Genehmigung erlaubt, die Boris Mikhailov nicht beantragte, sonst könnte er verdächtig erscheinen. Weil er sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, die Wirklichkeit seiner Stadt festzuhalten, waren seine Aufnahmen illegal. Es ist auffallend, dass er bis in die 1980er Jahre die Menschen im öffentlichen Raum von hinten fotografierte. Sie wirken auf ihren Gängen durch die schneebedeckten Brachen, die zwischen den einzelnen, neu errichteten Hochhäusern liegen, seltsam verloren und abwesend. Sie nehmen die Verwahrlosung und die Tristesse der Umgebung, in der sie leben, nicht wahr, denn sie kennen nichts anderes. Obwohl die öffentlichen Bilder aus Mikhailovs erster Serie »Black Archiv« klein, unscheinbar, geradezu minimalistisch sind, weisen sie auf große Unterschiede innerhalb der sowjetischen Gesellschaft hin, die sich in der Kleidung bemerkbar machen. Während die meisten der von ihm fotografierten Menschen ärmliche, schlichte und abgenutzte Kleidungsstücke und Kopfbedeckungen tragen, kann man Parteifunktionäre und Geheimdienstleute, die auf den Straßen von Charkiw dienstlich oder privat unterwegs sind, an ihren Ledermänteln und Hüten erkennen. »Wenn man die vor einem gehenden Leute überholt, möchte man ihnen meistens nicht ins Gesicht schauen«, schrieb der Fotograf in seiner »Unvollendeter Dissertation«, einem Tagebuch, das er von 1984 bis 1985 führte.
Alles ist rot
Boris Mikhailovs Leben ist von unverhofften Wendungen und Paradoxien geprägt, die jedoch immer einen glücklichen Fortgang und ein happy end hatten. Auf die Idee, dass Fotografie seine Berufung sei, brachte ihn der KGB, dessen Mitarbeiter im Labor einer Fabrik für Raketenbau, wo er als Ingenieur arbeitete, die von ihm gemachten Aktfotos seiner zukünftigen Frau fanden. Er wurde gefeuert, fand dann später eine Anstellung als Fotograf im Haus der Politischen Bildung in Charkiw, so dass er von nun an die Menschen frontal ablichten durfte. Vom Ende der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre nahm er eine Serie von Fotoreportagen auf, in denen er den privaten und öffentlichen Alltag in der Sowjetunion dokumentierte: Freizeitvergnügen beim Tanz und am Strand, Straßenszenen, Militärparaden und Massenaufläufe aus Anlass nationaler Feiertage. In der »Roten Serie« (1968-1975) zeigt er eine Gesellschaft, die offensichtlich durch und durch rot geworden ist: Die Menschen tragen rote Fahnen, rote Socken, rote Hemden, rote Kopftücher, rote Taschen, rote Scharfen, rote Kleider, rote Nelken (die einzigen Schnittblumen, die man in der UdSSR kaufen konnte), rote Rosen und roten Mohn aus Krepppapier. Die Tribünen, Teppiche, Tischdecken, Trams, Traktoren, die Lippen der Frauen, das aus einer Wunde fließende Blut, die Pickel im Gesicht eines Soldaten und ein Papagei sind rot. »Alles ist eine Frage der Zeit, in der man lebt«, sagt Boris Mikhailov.
»Als ich zu fotografieren anfing, wollte ich eigentlich die Schönheit und ihren Sinn einfangen, aber dann erzwang die Zeit andere Prioritäten. So bin ich zum Chronisten meiner Zeit geworden.«
Zum Chronisten des Sozialistischen Realismus, wie er wirklich war.
Unvorstellbarer Untergang
In der Sowjetunion blieb das Werk des Künstlers, der nach ihrem Zerfall zu einem der international wichtigsten Fotografen der Gegenwart gekürt wurde, im Verborgenen, denn es durfte nicht ausgestellt werden. Dass das rot geschmückte Imperium untergehen wird, war selbst für diesen so wachen und aufmerksamen Beobachter und Dokumentaristen der sowjetischen Wirklichkeit unvorstellbar. Doch seine zwei letzten, in Charkiw und seiner Umgebung in den 1980er Jahren entstandenen Serien »Viscidity« (Klebrigkeit, 1982) und »Salt Lake« (Salzsee, 1986/87) sind eine unbewusste Chronik des unaufhaltsamen Untergangs. Die Farbe Rot kann nicht mehr davon ablenken, dass die Häuser, Straßen und die zwischenmenschlichen Beziehungen zerfallen. Die menschliche- und die Bausubstanz lösen sich immer sichtbarer auf. »Jetzt helfen auch keine Buntstifte mehr – der Sommer soll kommen«, schrieb Boris Mihkailov unter dem Foto einer heruntergekommenen Gartenlaube, vor der sich Bauschutt türmt. Es besteht aus einigen Ziegeln, Rohren und angenagten Spanplatten. Zu wenig, um daraus eine feste Bleibe zu bauen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 7, März 2012
Boris Mikhailov
Time is out of joint. Fotografien 1966–2011
noch bis zum 28. Mai
Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin-Kreuzberg
Mittwoch-Montag 10:00-18:00 Uhr
Dienstag geschlossen
Tageskarte 8/5 Euro
jeden ersten Montag im Monat 4 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre
Ausstellungskatalog, Preis 24,80 Euro
Donnerstag, 05.04.2012, 18:00 Uhr:
Boris Mikhailov im Gespräch mit Inka Schube, Kuratorin für Fotografie am Sprengel-Museum in Hannover
Eintritt 8/5 Euro