Ceija Stojka (1933-2013), KZ-Überlebende, veröffentlichte 1988 das Buch »Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin«, das nicht nur in Österreich für großes Aufsehen sorgte, denn es war einer der ersten persönlichen Berichte über Porajmos, den Völkermord an den europäischen Roma. Weil sie alles, was sie erlebt hatte, mit Worten nicht ausdrücken konnte, begann Ceija Stojka zu malen. Sie schuf schonungslose, unmittelbare, authentische und erschütternde Bilder des Grauens, die sich tief ins Gedächtnis einprägen.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Nach fast einem halben Jahrhundert des Schweigens wollte Ceija Stojka, die als Kind Schreckliches erlebt hatte, »mit jemanden reden. Es war aber niemand da, der mir zugehört hätte, und – Papier ist geduldig. Es hat mit dem Schreiben halt recht gehapert, aber wie ich einmal begonnen hab, sind die Erinnerungen nur so herausgeschossen. Eine halbe Stunde hab ich meistens geschrieben, dann musste ich ja schon wieder kochen. Während ich aber gekocht oder das Essen serviert oder Geschirr abgewaschen hab, hat sich das in mir wieder gespeichert, in meinen Gedanken war ich schon wieder auf dem Papier. Dann hab ich mir diese Zettel schön geordnet, hab einen genommen und bin zu meinem Bruder gegangen. Karli, hab ich zu ihm gesagt, du tätst mir einen Gefallen, wenn du das Blattl lesen würdest. – Geh, das Gekritzel, schmeiß weg. – Ja? Und ich hab mich geniert für mein Gekritzel und bin gegangen. Trotzdem hab ich alles genommen und in der Küche, wo niemand hinkommt, aufgehoben.« Dieses »Gekritzel« zeigte sie ihrer Freundin, der Wiener Autorin und Filmregisseurin Karin Berger, die es 1988 veröffentlichte.
Das Buch »Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin« sorgte für großes Aufsehen, denn es war einer der ersten persönlichen Berichte über den Völkermord an den europäischen Roma, also über ein Kapitel aus der Geschichte des Nationalsozialismus, das lange Zeit von den Historikern und der Öffentlichkeit ignoriert oder vernachlässigt wurde. Karin Berger drehte auch zwei Filme über Ceija Stojka: »Porträt einer Romní« und »Unter den Brettern hellgrünes Gras«.
Unvorstellbares Leid
Die »Rom-Zigeunerin« Ceija Stojka war Angehörige der Lovara, einer Volksgruppe, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Ungarn und der Slowakei ins heutige Österreich auswanderte. Fast alle Lovara-Roma, so auch Ceijas Familie, waren nomadische Pferdehändler. Die am 23. Mai 1933 in Kraubath an der Mur in der Steiermark geborene Ceija war das fünfte Kind von Karl Wackar Horvath und Maria Sidi Rigo Stojka. Als nach dem Anschluss Österreichs das »Herumzigeunern« verboten wurde, zogen die Stojkas nach Wien, wo sie sich in einem Hinterhof im 16. Bezirk eine kleine Holzhütte bauten. 1941 wurde Ceijas Vater von der Gestapo verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Neuengamme und Sachsenhausen verschleppt. Ein Jahr später wurde er in der »Euthanasie«-Anstalt Hartheim in Oberösterreich ermordet. 1943 begann auch für Ceija das unvorstellbare Leid: Sie wurde mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und im so genannten »Zigeunerfamilienlager« untergebracht. Ihr jüngster Bruder, der achtjährige Ossi, wurde bei medizinischen Experimenten mit Typhus infiziert und starb dort. 1944 wurde ein Teil der Familie Stojka, darunter die Mutter Sidi, Ceija und ihre Schwester Kathi ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, von dort Anfang 1945 ins KZ Bergen-Belsen transportiert, wo sie im April britische Soldaten befreiten. Sidi und Ceija fuhren nach Wien, wo sie Kathi und die Brüder Hansi und Karli wiedertrafen, die aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Flossenbürg zurückkamen. Sie waren die einzigen KZ-Überlebenden der 200 Personen zählenden Großfamilie Stojka.
Helle und dunkle Bilder
Weil sie alles, was sie erlebt hatte, mit Worten nicht ausdrücken konnte, begann Ceija Stojka, die nach dem Krieg in Wien wohnte, zu malen. Es entstanden »helle Bilder« ihrer bis 1938 unbeschwerten Kindheit: Landschaften, Szenen aus dem Alltag ihrer Familie, Blumen. Doch die Frau mit der am linken Unterarm tätowierten Nummer »z 6399« konnte und wollte nicht vergessen, was ihr und ihren Verwandten im »Zigeunerlager« in Auschwitz und in den anderen Konzentrationslagern zuteil wurde: Demütigungen, Hass, Hunger, Durst, Auspeitschungen, Hundebisse, die ständige Angst vor dem Tod, die Opfer, die sich ausziehen mussten, bevor sie von den »Nazis mit schlimmen Gesichtern« in die Gaskammern getrieben wurden, das unerträgliche Gebrüll der Wachmänner und Aufseherinnen. Das sind die Sujets von Ceija Stojkas »dunklen Bildern«, ihre Erinnerungen aus der Hölle. »Leider werden diese Bilder, solange ich leben werde, wieder und wieder vor meinen Augen schweben. Ich habe es niemals geschafft, diese Bilder zu vergessen. Der Tod, die Verwesung, die Leichenberge, die so zugrunde gerichteten Menschen. Wegschauen, es zulassen, ist ganz falsch«, schrieb die Künstlerin am 16. Juli 2009 auf der Rückseite ihrer Zeichnung »Die sind schon alle hin. Bergen-Belsen, 15. April 1945.« Auf die Vorderseite zeichnete sie einen Stacheldrahtzaun, hinter dem Wachmänner, die schwarze Stiefel tragen, stehen. Vor ihren Füßen liegen nackte Leichen. Ein Rabe, für Ceija Stojka Symbol der Hoffnung und Freiheit, hängt tot auf dem mit elektrischem Strom geladenen Stacheldrahtzaun. Dem anderen Raben gelingt es wegzufliegen.
Schonungslos und mahnend
Die »dunklen Bilder« sind das Werk einer Frau, die sie im letzten Jahrzehnt ihres Lebens aus der Perspektive eines Kindes malte. Es sind schonungslose, unmittelbare, authentische und so erschütternde Bilder des Grauens, dass eine distanzierte Betrachtung kaum möglich ist. Sie prägen sich tief ins Gedächtnis ein. Ceija Stojka, die am 28. Januar 2013 in Wien verstarb, war eine starke und unbeugsame Persönlichkeit, deren Kunst zwar autodidaktisch, doch durchaus eigenständig und mehr als überzeugend wirkt. Hochaktuell sind auch die mahnenden Worte, die auf der Rückseite einer ihrer Zeichnungen stehen: »Sie waren Menschen. Sie mussten leiden. Ausgezehrte Lebewesen. Arbeiten bis zur völligen Erschöpfung. Schaut heute bitte nicht weg. Sage nicht ja zum Bösen. Denn es lebt in den Menschen auch heute.«
Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz
Die bisher umfangreichste Ausstellung des Œuvres von Ceija Stojka unter dem Titel »Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz« fand im Sommer 2014 in Berlin statt: In der Galerie Nord im Tiergarten wurden 180 Zeichnungen und Gouachen präsentiert, in der Schwartzschen Villa in Steglitz waren Dutzende Gemälde versammelt, an beiden Orten unterteilt in Kapitel »Wien«, »Auschwitz-Birkenau«, »Ravensbrück«, »Bergen-Belsen« und »Nach der Befreiung«. Parallel dazu waren Stojkas Arbeiten in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in Brandenburg zu sehen. Diese dreiteilige Ausstellung war eine kuratorische Glanzleistung von Lith Bahlmann und Matthias Reichelt. Für ihre 472-seitige Publikation »Ceija Stojka (1933-2013). Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz« auf Deutsch, Englisch und Romanes, erschienen im Verlag für moderne Kunst in Nürnberg, wurde ihnen der Hans-und-Lea-Grudig-Preis 2015 verliehen. Das fast drei Kilo schwere Buch ist in der Tat ein »Mahnmalband«: ein wahres Wissenskompendium über Leben und Werk der Künstlerin und zugleich ein opulenter Nachruf auf Ceija Stojka.
Heute ist gestern
»Heute ist gestern« lautet der Titel einer Zeichnung der Künstlerin. So heißt auch die Ausstellung in der Galerie Kai Dikhas, dem »Ort des Sehens« im Aufbau Haus am Moritzplatz in Berlin, wo die Kunst von Roma und Sinti gezeigt wird. Zu sehen sind Bilder von Ceija Stojka, denen Arbeiten von Alfred Ullrich, Delaine Le Bas, David Weiss und Otto Pankok gegenüber gestellt werden. Es ist eine leise, aber sehr bewegende und berührende Schau. In den ausgestellten Arbeiten, die von Künstlerinnen und Künstlern aus verschiedenen Generationen geschaffen wurden, spielt die Erinnerung an die Vergangenheit eine zentrale Rolle. So tauchen zum Beispiel auf den Zeichnungen von Delaine Le Bas immer wieder schwarze Federn und Vögel auf. Sie sind, wie bei Ceija Stojka, einerseits ein Symbol der Freiheit, denn sie malte immer wieder Raben, die über den Köpfen der in den KZ eingesperrten, gepeinigten, gedemütigten und gemordeten Menschen fliegen. Andererseits wurden diese Menschen von der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie und ihren Gehilfen für vogelfrei erklärt. »Heute ist gestern«: wie wahr! Die Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung der Minderheiten, der Schwachen und Andersdenkenden gehört leider nicht der Vergangenheit an. »Oft ist es der künstlerische Ausdruck gerade dieser Erfahrungen, die in der zeitgenössischen Kunst der Sinti und Roma eine verbindende Klammer bilden«, sagt Moritz Pankok, Leiter der Galerie Kai Dikhas.
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Ceija Stojka und die Sammlung Kai Dikhas . Heute ist gestern
28. Januar bis 1. April 2017
Galerie Kai Dikhas
Aufbau Haus am Moritzplatz
Prinzenstr. 84 I Aufgang 2 (Ecke Oranienstr. / Stallschreiberstr.)
10969 Berlin
Öffnungszeiten:
Mittwoch – Samstag 12-18 Uhr
Parallel dazu wird die Ausstellung
Manolo Gómez Romero . [kaʧeˈβaʧe] gezeigt.
Eintritt frei.
Ceija Stojka, artiste rom
11. März bis 16. April 2017
Friche la Belle de Mai Marseille >>>