Chris Niedenthal: Der Beruf des Fotografen ist gewissermaßen meine Mission
Chris Niedenthal: Der Beruf des Fotografen ist gewissermaßen meine Mission

Chris Niedenthal: Der Beruf des Fotografen ist gewissermaßen meine Mission

Chris Niedenthal hat mehrere hunderttausend Fotos gemacht, doch eine seiner berühmtesten Aufnahmen »verdankt« er dem Kriegsrecht, das am 13. Dezember 1981 in Polen verhängt wurde. Am Tag darauf fuhr der Fotoreporter mit einem Bekannten durch die fast menschenleeren und vom Militär patrouillierten Straßen Warschaus. Neben dem Kino Moskwa, auf dessen Fassade ein Banner mit der Reklame des Antikriegsfilms Apocalypse Now in der Regie von Francis Ford Coppola hing, stand ein Scott Panzer, aus dem Soldaten ausstiegen. Diese Fotografie von Niedenthal ist das wohl am meisten zitierte Bilddokument der damaligen Zeit, ihre düstere und zugleich tragikomische Metapher, über die der Autor schrieb: Für mich symbolisiert dieses eine Bild das ganze Kriegsrecht. Aber damals hatte ich keine Ahnung, dass ich etwas so Wichtiges mache: Eine Ikone für die Polen.

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Von London nach Warschau

Chris Niedenthal hat einen besonderen Blick für das Land, das er zu seiner Wahlheimat auserkor. Er betrachtet es sowohl aus der Perspektive eines Außenseiters als auch der eines Insiders. Er wurde am 21. Oktober 1950 in London geboren, seine Eltern stammen aus Polen. Sein Vater Jan, vor dem Zweiten Weltkrieg stellvertretender Staatsanwalt in Wilno (heute Vilnius, Hauptstadt von Litauen), flüchtete nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen (17. September 1939) nach Großbritannien und arbeitete nach dem Krieg im dortigen Bildungsministerium; seine Mutter Helena, Mitarbeiterin der Polnischen Telegrafischen Agentur in Warschau, emigrierte zusammen mit der polnischen Regierung im September 1939. Sie lernten sich in London kennen und heirateten 1947. Zwei Ereignisse entschieden über Chris Niedenthals beruflichen Weg und den Ort seines Wirkens. Mit elf Jahren bekam er seinen ersten Fotoapparat – Kodak Starmite – was ihn dazu bewog, in Zukunft Fotoreporter zu werden. Schon damals wollte er wahre Geschichten dokumentieren, also die Wirklichkeit so zeigen, wie sie faktisch ist. Es folgte ein dreijähriges Studium im London College of Printing. 1963 besuchte er zum ersten Mal Polen. Zehn Jahre später ließ er sich in Warschau nieder, heiratete 1976 Karolina, eine Germanistin und Übersetzerin. 1977 wurde ihr Sohn Filip, heute ein bekannter polnischer Journalist und Verleger, geboren. Von 1987–1993 lebte die Familie Niedenthal in Wien, wo Chris Time-Korrespondent für Mittel- und Osteuropa war.

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Zwischen Modernisierung und Anachronismus

Im ersten Jahrzehnt seines Aufenthalts in Polen arbeitete Chris Niedenthal als Freelancer unter anderem für die Magazine Stern, Geo, die schwedische Zeitung Expressen, Spiegel, Time und Newsweek. Er fuhr durch die polnische Provinz und fotografierte das Leben: Volks- und religiöse Feste, Pilgerfahrten, Umzüge zum 1. Mai, Hochzeiten, schlafende oder spielende Kinder, Arbeiterinnen, Bauern, die freiwillige Feuerwehr der Franziskaner, illegale provisorische Kirchen, die trotz Verbots der Behörden in der Volksrepublik spontan entstanden. Er schuf ein skurriles und zugleich liebenswürdiges Tableau der polnischen Gesellschaft in der Gierek-Ära (1970–1980), einer Dekade, in der, laut der damaligen Parteilosung: Polen stark werden solle, damit die Menschen wohlhabender leben können. Die ländliche und kleinstädtische Bevölkerung schien davon unberührt zu sein. Ihren Alltag bestimmte die harte, körperliche Arbeit unter frühkapitalistischen Bedingungen. Ihre Freizeit drehte sich um den Glauben. Die Rituale der Religion und der Einfluss der katholischen Kirche waren mächtiger, als der von der Partei gepredigte und nie verwirklichte Reformsozialismus. Niedenthal zeigte auch, dass – wie schon immer in der Geschichte (und Gegenwart) – zwei polnische Gesellschaften existieren: die, die abseits der Großstädte wohnt und nicht geneigt oder dazu fähig ist, auf tradierte Muster zu verzichten, und die großstädtische, die zum erheblichen Teil vom Lande stammt, in Wohnsilos haust, in schlecht bezahlten Jobs arbeitet, sich im Urlaub auf den Ostseestränden zusammenpfercht, doch ihr Seelenheil nicht im Sozialismus (oder Demokratie), sondern wie seit eh und je in der Kirche findet. Darüber hinaus waren die staatlichen Feste wie Kirmessen organisiert, wo man begehrte Mangelwaren kaufen konnte. Nach einem Umzug aus welchem Anlass auch immer konnten sich die Massen mit allem versorgen, was es normalerweise in den Geschäften der Volksrepublik Polen nicht gab. Chris Niedenthal war und ist ein Chronist der polnischen Gesellschaft im Spagat zwischen scheinbarer Modernisierung und faktischen Anachronismus. Kein anderer Fotograf in Polen hat diese Widersprüche so überzeugend dargestellt.

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Der Anfang vom Ende

Er war der erste Fotograf, der 1978 nach der Wahl von Karol Wojtyła zum Papst eine Fotoreportage in dessen Heimatstadt Wadowice machte. 1979 zierte das Konterfei von Johannes Paul II., das Niedenthal während seiner Pilgerfahrt nach Polen fertigte, das Cover von Newsweek. Er war auch der erste Fotoreporter, der 1980 die Danziger Werft während des Streiks betreten durfte. Er fotografierte wiederholt Lech Wałęsa, den Sieg der Gewerkschaft Solidarność und die kurze Zeit des Aufbruchs danach. Seine Fotografien aus der Zeit des Kriegsrechts sprechen Bände. Er zeigt die Übermacht der Herrschenden, die tausende von Soldaten, Milizisten und Schlägertrupps auf die Straßen schicken, um Demonstrationen gegen General Jaruzelski und seine Junta brutal aufzulösen, leere Geschäfte, vor denen lange Schlagen stehen, denn die Menschen hoffen, dass doch noch etwas auf die Ladentheke geworfen wird, Schweine, die in einem Kofferraum gepfercht, illegal auf einem Markt verkauft werden, herausfordernd blickende Kinder mit Spielpistolen – und immer wieder Massen, die nach Tschenstochau pilgern. Selbstverständlich ist Niedenthal auch beim Runden Tisch und den ersten halbfreien Wahlen vom 4. Juni 1989 dabei. Er nimmt das Ende der Volksrepublik Polen und seine Protagonisten auf. Er dokumentiert auch den Niedergang des Kommunismus in Rumänien, Bulgarien, Albanien, den Zerfall der Sowjetunion, den Fall der Berliner Mauer, die Demonstration am Tiananmen-Platz in Peking. Für das Porträt von János Kádár, auf dem der I. Sekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei schwitzend vor einem riesigen Gemälde des schachspielenden Lenin posiert, bekam Chris Niedenthal 1986 den World Press Photo Award in der Kategorie »People in the News«.

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Der Zustand, in den wir geraten sind

Seit 50 Jahren hält der polnisch-britische Fotograf das Zeitgeschehen fest. Seine Aufnahmen spiegeln die Geschichte und die daran Beteiligten oder scheinbar Unbeteiligten. Sie sind ein historisches Panorama des Lebens in einem benachteiligten Teil der Welt: eine Folge der politischen Entscheidungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Niedenthals Œuvre ist immens und lange noch nicht vollständig erschlossen. Einen Ausschnitt daraus mit 200 Fotografien aus den Jahren 1970–2022 präsentiert noch bis zum 4. Juni das Dom Spotkań z Historią (Haus der Begegnungen mit der Geschichte) in Warschau. Die von Anna Brzezińska und Katarzyna Puchalska kuratierte Soloschau ist eine Premiere: Noch nie wurde das Werk des Fotografen in Form einer Chronik der gesellschaftlichen und politischen Situation in Polen und anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang in den 1970ern und 1980ern zur Schau gestellt. Nicht zu übersehen ist, dass Chris Niedenthals Interesse immer dem Alltag gilt. Er offenbart, wie ihn die Menschen auch unter schwierigsten Bedingungen meistern, er beobachtet ihre kleinen Freuden und Fluchten aus der Wirklichkeit, die simplen Zerstreuungen, die Geborgenheit in der Masse, die Hoffnung auf ein freies Leben ohne materielle Sorgen und ideologische Zwänge. Der Fotograf, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sensible Porträts von behinderten Kindern fertigte, kehrte 2015 zur Fotoreportage zurück. Nach dem Wahlsieg der Partei PIS gingen in Polen wieder Menschen auf die Straßen, sie demonstrierten gegen die Entmündigung der Gerichte, die Missachtung der Verfassung, die faktische Abschaffung der Abtreibung und das verhängnisvolle Bündnis der Regierung mit der katholischen Kirche. Sie wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen, willkürlich verhaftet, schikaniert. Er zeigt auch den ungehinderten Vormarsch der extrem rechten, von den Machthabern unterstützen Gruppierungen.

Dieser Beruf ist gewissermaßen meine Mission. Wenn ich jahrelang immer wieder diese unsere Geschichte fotografierte, bin ich der Meinung, dass ich nicht aufhören darf, ich muss diesen Zustand, in den wir jetzt geraten sind, dokumentieren. Im ehemaligen Polen machte ich das für bedeutende ausländische Zeitschriften, jetzt mache ich das für mich.

Chris Niedenthal, Ausstellungskatalog, Dom Spotkań z Historią, Warszawa, 2022
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Die Geschichte wiederholt sich

Die wie ein Rundgang durch die Geschichte konzipierte Retrospektive wartet mit bekannten und weniger bekannten Fotografien auf. Viele der Besucher und Besucherinnen finden darin Ereignisse, die sie persönlich erlebten, an denen sie sich aktiv beteiligten oder die sie aus den Erzählungen ihrer Eltern und Verwandten kennen. Es ist eine Geschichte, die auf gemeinsamen oder vermittelten Erfahrungen beruht. Man taucht in eine Vergangenheit ein, die sich unter anderen politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen gegenwärtig wiederholt, was den Fotografien eine unglaubliche Aktualität und Brisanz verleiht. Menschen protestieren auf den Straßen, obwohl ihre Aktionen bisher nichts verändert haben. Nach dem Lockdown im April 2020 ist die polnische Hauptstadt menschenleer, die Covid-Pandemie wirkt wie eine Neuauflage des Kriegsrecht, nur ohne Eis und Schnee, dafür aber mit einem optimistischen Murale auf der Fassade einer Shopping Mail in Warschau-Mitte: Es wird gut werden. Nicht für alle, denn knappe zwei Jahre später fotografiert Chris Niedenthal ukrainische Flüchtlinge, darunter etliche Kinder, die auf dem Fußboden des Warschauer Zentralbahnhofs schlafen.

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Alles, was ein Fotograf braucht

Weil das Zeitgeschehen unberechenbar geworden ist, wird der zu Recht gefeierte Fotograf noch viel zu tun haben. Seine Warschauer Ausstellung bringt ihn und seine Arbeitsweise schon jetzt näher: Neben den beeindruckenden Fotografien, die zu Themenblöcken zusammengefasst sind, werden auch seine Kameras, Presseausweise, Akkreditierungskarten und Briefe an ausländische Redaktionen gezeigt. Das ist alles, was ein Fotograf braucht, um seinen Beruf gewissenhaft und weitgehend ungehindert ausüben zu können. Und er erklärt, worum es ihm dabei geht:

Am wichtigsten ist für mich die Essenz. Genauso ist meine Fotografie. Einfach, ohne Schnickschnack, ohne extreme Effekte – aber essentiell.

Chris Niedenthal, Ausstellungskatalog, Dom Spotkań z Historią, Warszawa, 2022

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Chris Niedenthal
13.10.2022–04.06.2023
Dom Spotkań z Historią
Instytucja kultury m.st. Warszawy
ul. Karowa 20, 00-324 Warszawa
Dienstag–Freitag 10 bis 20 Uhr; Samstag–Sonntag 12 bis 20 Uhr

Die hauseigene Buchhandlung, wo der reich bebilderte und -betextete Ausstellungskatalog in polnischer und englischer Sprache zum Preis von 120 zł (ca. 25 Euro) gekauft werden kann, ist außer Montag von 12 bis 20 Uhr geöffnet.

Dom Spotkań z Historią >>>

Chris Niedenthal Website >>>

Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ausstellungsansicht Chris Niedenthal, Dom Spotkań z Historią / Haus der Begegnungen mit der Geschichte, Warszawa,2022/2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff