Von Urszula Usakowska-Wolff
Diese beiden Herren treten in der Regel gemeinsam und häufig unter einem weiß-blauen siamesischen Regenschirm auf. Der eine ist groß und kann auch deshalb nicht übersehen werden, weil er sich einen roten Schal um den Hals drapiert hat. Der andere ist etwas kleiner, betont elegant, trägt eine schwarze Schleife, eine schwarze Weste, ein weißes Hemd und ein weißes Sakko. Jesper Dalmose und Lennox Raphael wohnen in Kopenhagen, doch sie sind oft in Berlin unterwegs: nicht als Touristen, sondern als Reisende in Sachen Kunst. Sie haben sich Großes ausgedacht und Großes vollbracht, denn es ist ihnen gelungen, ihre Ideen zu verwirklichen: 2013 konnten sie 50 internationale Künstlerinnen und Künstler dafür begeistern, an ihrem »Festival der Gegenwartskünste und Performance« in der Galerie Dada Post in Berlin-Schönholz teilzunehmen. Weil Dada in Schönholz zwar eine kurze, doch an manchen Stellen in Berlin eine recht lange Tradition hat, wurde für das »Kunst-Happening und sozial-künstlerische Experiment« ein passender Name gefunden: »Berlin Soup« heißt das Ganze, eine »Berliner Suppe« also, die im vorigen Juni auch in Kopenhagen aufgetischt wurde und nun als »Wanderfestival« die hiesige Szene mithilfe von Marie Dahl, Künstlerin, Kunstvermittlerin und ehrenamtliche Mitarbeiterin des Projektraums »WestGermany – Büro für postpostmoderne Kommunikation« in Kreuzberg, wieder zum Kochen brachte.
Ein Ambiente für Experimente
Der Ort, an dem die »Berlin Soup« diesmal vom 9. bis zum 12. April serviert wurde, hat mit Kunst auf den ersten, zweiten und x-ten Blick sehr wenig zu tun. Es ist die Gegend rund um das Kottbusser Tor, eine triste Betonwüste und ein Transitort, wo Berliner und Fremde, an Junkies und Dealern vorbei, zu den Zügen eilen, aus den Unterführungen strömen, keine Zeit oder keine Lust haben, stehen zu bleiben, denn es gibt hier wenig zu sehen und nur den Lärm der Hochbahn und der hupenden Autos zu hören. Es ist eine fehlgeplante urbane Gegend, die sich langsam wandelt, noch immer von Verfall und Verwahrlosung gezeichnet. Aufbruch findet auch hier statt, doch er hat, wie an vielen Stellen der zur Gentrifizierung freigegebenen Metropole, einen faden Beigeschmack: Für Menschen, die seit Jahrzehnten hier wohnen, bedeutet das vor allem Ungewissheit, Mieterhöhungen und Zwangsräumungen. Wut auf die Verursacher ihrer Misere staut sich auf. Dieser soziale und urbane Brennpunkt, an dem sich gescheiterte Existenzen und zunehmend auch Touristen tummeln, schien den Performern und Kunstaktivisten Jesper Dalmose und Lennox Raphael das richtige Ambiente für ihre künstlerischen Experimente zu sein.
Exquisites Potpourri in WestGermany
Das viertägige Festival »Berlin Soup« mit Kunst, Poesie, Video, Musik, Tanz, Workshops und Performances fand sowohl draußen, auf der Mittelinsel unter der Hochbahn am Kottbusser Tor und den umliegenden Straßen, als auch innen statt. Der überdachte Austragungsort des »exquisiten Potpourris«, wie die beiden Herren ihr Kunstmarathon bezeichnen, hat einen unverkennbaren Underground-Charakter, obwohl es im zweiten Stock eines durch nichts auffallenden Hauses in der Skalitzerstraße ganz unter dem Himmel von Berlin-Kreuzberg liegt. Dort, wo sich früher eine Arztpraxis befand, ist seit zehn Jahren das besagte »WestGermany – Büro für postpostmoderne Kommunikation« untergebracht, ein Non-Profit-Projektraum, das sich »mit den brennendsten und wichtigsten Problemen unserer Zeit: soziale Gerechtigkeit, Arbeit, Obdachlosigkeit, Migration und kulturelle Identität, Umweltverschmutzung und Krieg direkt auseinandersetzt.« Diese Auseinandersetzung erfolgt recht diskret, denn das sich in internationalen Kunstkreisen großer Beliebtheit erfreuende, weißgekachelte und programmatisch nicht aufgehübschte »Büro« gilt in Berlin eher als Geheimtipp. So sorgte die »Berlin Soup«, an der 50 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt teilgenommen haben, nicht nur unter dem postpostmodernen Dach, sondern auch im Freien für großes Aufsehen. Auch das Wetter meinte es mit dem Kunstfestival gut: Bei Sonnenschein und strahlend blauem Himmel konnten die daran Beteiligten mit ihren Aktionen im Freien die sonst mit ihren Problemen beschäftigten und achtlos vorbeieilenden Menschen dem Alltag entreißen.
Starke Musikstücke unter der Brücke
Passanten blieben stehen, denn ihren Augen bot sich ein ungewohnter Anblick und ihren Ohren schmeichelten die an diesem Ort recht ungewöhnliche Klänge: Der seit Jahren mit seinem Flügel kreuz und quer durch Europa ziehende Schweizer Komponist und Pianist Julian Layn, sozusagen ein rollender Musiker, machte diesmal Station unter der Hochbahn am Kottbusser Tor und erfreute die Menschen mit seinen Interpretationen klassischer Werke, vermischt mit Jazzimprovisationen. Er spielte mit so viel Power, Energie und Elan, dass man den penetranten und allgegenwärtigen Straßenlärm nicht mehr hörte. Auch durch die Intervention des Performers Rune Fjord aus Kopenhagen verwandelte sich die Mittelinsel unter der Hochbahn in einem Ort, der zum Verweilen einlud. Das graue, schmutzige und mit Taubenkot reichlich »geschmückte« Pflaster bedeckte er mit blauen, weißen, schwarzen und zum Teil verspiegelten Fliesen. Er legte sich auf dieses Mosaik und verharrte darauf mit geschlossenen Augen. Dann stand er auf, ein Zauberer, der mit einfachsten Mitteln und etwas Fantasie diesen hässlichen Ort leider nur für kurze Zeit aus dessen Dornröschenalbtraum wachrüttelte. Während diese beiden Aktionen für eine Weile die Wirklichkeit vergessen ließen, knüpften andere direkt an ihre Schattenseiten an. Unter einem Brückenpfeiler, der an die stark befahrene Straße angrenzt, saß auf einem zerlegten Karton und Stroh-Einstreu eine mit einem weißen Overall bekleidete Frau: offensichtlich eine Obdachlose, die dort ihr Lager aufgeschlagen hatte, worauf das »Dach« ihrer Behausung, ein Stück bunten Stoff, und der strassen|feger, den sie verkaufte, hindeuteten. Das war die Künstlerin Alexandra Kostrubala, die mit ihrer lebensnahen Performance auf das Schicksal der Menschen, die auf den Straßen leben, aufmerksam machen wollte. Sie bastelte auch kleine Häuschen aus Karton als Sinnbild des Traumes von den eigenen vier Wänden. Platz ist in der kleinsten Hütte, sagt der Volksmund, doch dem ist leider nicht so. So müssen jene, die meistens unfreiwillig im Freien leben, das Wenige, was sie haben, durch die Straßen schleppen. Um das zu demonstrieren, kreiste Alexandra mit ihrem luftigen Stoffdach über dem Kopf durch die Gegend: Eine Schnecke im Ameisenhaufen am »Kotti«.
»Flying Training« & »Howling«
Das Kunstfestival »Berlin Soup« war eine nicht immer leichte, aber in den meisten Fällen eine abwechslungsreiche und interessante Kost. Was das Festival so authentisch, so frisch und überzeugend erscheinen ließ, war die Tatsache, dass es von Enthusiasten auf die Beine gestellt und von Vertreterinnen und Vertretern aller künstlerischen Generationen, von Anfang 20 bis Mitte 70, gestaltet wurde. Unabhängig vom Alter feierten sie dort eine von vielen Zwängen befreite nicht kommerzielle Kunst, die auf keine Sponsoren oder andere Geldgeber Rücksicht nehmen musste, denn die an dem Festival Beteiligten kamen nach Berlin auf eigene Kosten und bekamen keine Honorare für ihre Auftritte. Erleben konnte man ein zum Teil chaotisches, exotisches und erfrischendes Mix aus mehr oder weniger traditioneller Musik, Gesang, Tanz, Poesie, Spoken Word, Bildern, Skulpturen, Installationen und Videos, worunter der Zeichentrickfilm »Flying Training Exercise« der Bildhauerin und Videokünstlerin Charlotte Petersen aus Kopenhagen durch Witz, genaue Beobachtungsgabe und einen hinreißenden jazzigen Soundtrack die Aufmerksamkeit fesselte. Einen Begeisterungssturm rief das Video »Howling Like Virginia Woolf« von Jesper Dalmose & Lennox Raphael hervor, in dem der Letztere, wie immer im weißen Anzug und mit einer schwarzen Schleife, aus dem Meer, einer eigentümlichen Aphrodite ähnlich, aufstieg und »eine neue Sprache« suchte, indem er seine eigenen Verse mit denen von Virginia Woolf vermischte. Die Reaktion des Publikums ließ nicht lange auf sich warten. Die Woolf à la Raphael brachte die Leute zum Heulen. Nur ein Hund, der sein Frauchen und Herrchen zu allen Kunstevents der »Berlin Soup« begleitete und mit stoischer Ruhe das Geschehen über sich ergehen ließ, hielt die Schnauze.
Der Trick mit dem Klick
Das viertägige Kunstfest in WestGermany war bunt, laut und programmatisch unvollkommen, was seinen Charme ausmachte. Experimente und Improvisationen standen auf der Tages- und Nachtordung. Zu den Höhepunkten der »Berlin Soup« gehörte die Performance »Falling From A Cloud Of Whisper«, das Werk von Olga Magieres, Doris Bloom (beide aus Kopenhagen) und des in Berlin lebenden Japaners Adachi Tomomi. Sie führten vor, wie die Sprache und die zwischenmenschliche Kommunikation unter dem Einfluss der digitalen Medien verkümmern. Der heutige Mensch verwandelt sich in eine Maschine, die Kommunikation verlagert sich zunehmend in seine Zeigefinger und Daumen, mit denen er die Touchscreens der großen und kleinen Computer berührt, um in die schöne neue elektronische Welt aufzubrechen. Unmittelbar vor Beginn der Performance wurde der Tisch, an dem die drei »Flüsternden« saßen, mit einem Gerät aus alten Zeiten, in denen es keine Notebooks, Smartphones und Tablets gab, bestückt. Der Ventilator war eine direkte Anspielung auf die Arbeit »Siehst du den Wind. Gruß an Tinguely« (1962) von Heinz Mack, die in der Ausstellung »ZERO – die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre« im Gropius-Bau gegenwärtig gezeigt wird. Am Ende der Performance schrieb Doris Bloom »After Heinz Mack« auf ihr T-Shirt: den Gruß an den ZERO-Meister. »Nach Heinz Mack« bedeutet auch: Es ist noch nicht so lange her, da der Mensch die Technik beherrschte und sie spielerisch verfremdete. Heute beherrscht die Technik auf spielerische Art den Menschen. An seinen Sessel gefesselt und stumm klickt er sich durch vom Link zum Link, ohne wissen zu wollen, dass jeder seiner Klicks in der »Cloud« gespeichert wird. Der Trick mit den Klick ist: Du siehst die »Wolke« nicht, aber sie dich. Das ist der Clou der Cloud: Big Data is watching you.
Text und Fotos © Urszula Usakowska-Wolff