Nach fast 50 Jahren ist Jules Massenets Don Quichotte wieder auf einer Berliner Bühne zu sehen. Es ist ein großes Verdienst der Deutschen Oper, die französische Opernkunst dem Berliner Publikum wieder näher zu bringen: Nach den großen Meyerbeer-Abenden nun Massenets letztes Werk, sein musikalisches Forschen nach Traum und Realität.
Wer sich von diesem Don Quichotte eine Begegnung mit dem Ritter von der traurigen Gestalt erhofft, muss sich einem ganz anderen Handlungsstrang öffnen. Lediglich die Namen der Protagonisten sind noch mit denen des Romans von Cervantes identisch. Es wird immer wieder auf Motive des Romans angespielt, aber der Ritter ist ein athletischer Held, der seinen Mann steht, und sein Knappe ist nicht klein und rundlich, sondern ein tatkräftiger Mann, und der wichtigste Unterschied zum literarischen Vorbild: Dulcinée schwebt nicht nur durch die Träume des Ritters, sondern erscheint höchst real und treibt die Handlung voran.
Dulcinée flirtet im Kreis ihrer Verehrer, als Quichotte und Pansa erscheinen, wobei Pansa auch noch die Rolle der Rosinante übernimmt. Quichotte erklärt Dulcinée seine Liebe, und sie gibt ihm den Auftrag, eine Perlenkette zurückzubringen, die Räuber ihr gestohlen haben.
Auf dem Weg zu den Räubern singt Quichotte Liebeslieder auf Dulcinée, während Sancho Pansa den schlechten Charakter der Frauen besingt. Als sich eine Gelegenheit dazu bietet, kämpft Quichotte mit Windmühlen, die er für Riesen hält.
Im Wald treffen sie auf die Räuber, vor denen Sancho sich versteckt. Quichotte kämpft mit ihnen, wird aber besiegt. Die Räuber wollen ihn töten, doch sein letztes Gebet rührt sie derart, dass sie ihn gehen lassen und ihm auch die Perlenkette aushändigen.
Quichotte übergibt Dulcinée die Perlenkette und fordert sie zum Lohn auf, seine Frau zu werden, doch sie weist ihn ab. Alle verspotten Quichotte, nur Sancho hält eisern zu ihm.
Quichotte fällt aus seiner Traumwelt und liegt im Sterben. Er verabschiedet sich von Sancho, dankt ihm für seine Treue und will ihm eine traumhafte Insel schenken. In den letzten Atemzügen hört er noch einmal die Stimme Dulcinées.
Die Titelrolle des Don Quichotte sang Alex Esposito von Szene zu Szene überzeugender. Sein kraftvoller Bass und seine schauspielerische Leistung erlauben ihm eine starke Präsenz. Allerdings sind sie ihm auch in den Passagen, die eher ein gefühlvolles Singen erfordern, dann auch ein wenig im Wege. Wenn er den Räubern der Perlenkette vergibt und am Schluss die Freundschaft mit seinem Knappen feiert, muss auch ein Ritter nicht unbedingt aufrecht stehen.
Seth Carico kennt das Berliner Publikum als einen gewandten und stimmstarken Bass, der auch als Sancho Pansa ein fester Anker in der Handlung und der Musik ist. Er begleitet seinen Herren nicht nur durch die erträumte Welt, sondern verschmilzt mit ihm auch gern zu seinem alter ego. Das macht es im Duett der beiden Bässe oft schwer zu erkennen, wer denn nun gerade was singt.
Die einzige weibliche Rolle der Dulcinée gibt Clémentine Margaine mit ihrem Mezzosopran mit allen Schattierungen einer natürlichen Weiblichkeit. Sie meidet es, als Star des Restaurants in das Soubrettenfach zu gleiten, und ist doch die das Geschehen beherrschende Kurtisane mit wehmütigen Gedanken an die eigene Zukunft. Als sie Don Quichotte zurückweist, ist ihr Gesang von tiefer Empathie geprägt.
Die vier Räuber (Alexandra Hutton, Cornelia Kim, James Kryshak, Samuel Dale Johnson) haben wenig Gelegenheit, sich hervorzutun, liefern aber eine solide Arbeit ab.
Der Chor ist sehr beschäftigt, mal als tanzende Restaurantgäste, mal als lustige Gesellschaft mit Partyhütchen. Vielleicht lag es daran, dass der französische Text nur sehr unartikuliert zu vernehmen war.
Die schmeichelnde Eleganz und Vielfarbigkeit der französischen Spätromantik hat Emmanuel Villaume gut im Griff. Feine und leise Töne wechseln mit iberischen Folkloreelementen (jedenfalls was Massenet dafür hielt) starke Tutti und Solopartien einzelner Instrumente – das alles begleitet die Handlung auf der Bühne gekonnt und hilft dem Zuhörer, die Ideen der Personen zu verstehen.
Leider ist es Jakop Ahlbom mit seiner Inszenierung nicht gelungen, die Spannung zwischen Illusion und Wirklichkeit, zwischen freudig feurigen Träumen und melancholischer Verzweiflung auf der Bühne darzustellen. Zauberkünstlertricks, wie man sie auch auf jeder Kirmes bestaunen kann, stellen nicht die Macht der Illusion in Frage, und Käfer, die à la Gregor Samsa durch das Bild krabbeln, reichen für eine Anspielung auf die surrealistischen Züge der Oper nicht aus.
Das Premierenpublikum war mit diesem Don Quichotte zufrieden und dankte mit langem Applaus. Don Quichotte erklärt seinem Sancho Pansa: »Notre gloire commence!«. Das kann man dieser Inszenierung nicht nachrufen. Aber ein ordentliches und unterhaltsames Stück ist ja in dieser Zeit auch schon ein Erfolg. Mein Sitznachbar ist nach der Pause nicht zurückgekehrt. Ich wüsste nur zu gern, warum …
Text © Manfred Wolff
Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Jules Massenet
Don Quichotte
Deutsche Oper Berlin >>>
Nächste Vorstellungen: 07.06., 13.06., 18.06