Papier ist der Stoff, der ungeahnte gestalterische Möglichkeiten bietet und dem bereits zum siebten Mal die parallel zum Gallery Weekend laufende Messe paper positions Berlin gewidmet war. In der Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom in der Französischen Straße, wo vom 25. bis zum 28. April 56 Galerien aus Deutschland, den Niederlanden, Iran, Japan, Österreich, Belgien, Litauen, Serbien, Lettland, Italien, der Türkei und der Ukraine Werke von 119 Künstlerinnen und Künstlern präsentierten, herrschte eine entspannte und heitere Atmosphäre, wie in einer belebten lichtdurchfluteten mediterranen Piazza. Die leicht zugänglichen z- oder u-förmigen Messestände sorgten für Offenheit und einen im wahrsten Sinne dieses Wortes barrierefreien Dialog mit der Kunst und der sie vertretenden Galeristen. Es gab auch viele Gelegenheiten, sich mit den dort Ausstellenden zu unterhalten: Ein ästhetisches und intellektuelles Vergnügen, das lange in Erinnerung bleibt.
Material mit Riesenpotential
So war es keine Überraschung, dass die diesjährigen paper positions Berlin bei kunst- und kauffreundlichen Publikum gut ankamen: 16.000 Papierfans besuchten die vielseitige Schau. Noch vor ihrer offiziellen Eröffnung waren zahlreiche Arbeiten mit roten Punkten versehen. Kein Wunder, denn ihre moderaten Preise, die häufig unter 1000 und selten über 10.000 Euro lagen, waren auch für Leute mit nicht so üppigem Geldbeutel und nicht so großen Wänden eine Verlockung zum Aufbau oder Aufstockung einer eigenen Sammlung. Zu sehen und zu erstehen war Kunst mit menschlichem Maß, die auch in die kleinste Wohnung passt. Die wie eine Gruppenausstellung inszenierte Messe überzeugte durch Klasse in der überschaubaren Masse. Sie ermöglichte eine Entdeckungsreise durch die Welt des Papiers und seiner klassischen oder zeitgenössischen Gestaltungsweise. Denn Papier ist ein Material mit einem Riesenpotential, wenn es denn in kreative Hände gerät: Es kann geschöpft, geklebt, gefaltet, geschichtet, bemalt, beschrieben, bedruckt, bestickt, gefärbt, geprägt, lasiert, lackiert, geschreddert und perforiert werden; es lässt sich biegen, klumpen und zu stabilen oder grazilen Objekten formen. Die Kunst aus und auf Papier ist beständig und außerordentlich lebendig, obwohl diesem Genre vor nicht allzu langer Zeit der Tod prophezeit wurde.
Raffinierte Reliefs, spektakuläre Skulpturen
Das Angebot der paper positions 2023 war umfassend und traf jeden Geschmack. Es reichte von der Kunst der Moderne über die der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (George Grosz, Lyonel Feininger und Rolf Hans bei Thole Rotermund Kunsthandel, Hamburg; Lotte Laserstein, Tamara de Lempicka, Jeanne Mammen und Paula Moderson-Becker bei Dr. Nöth Kunsthandel + Galerie, Potsdam; Willi Baumeister, Max Beckmann, Lovis Corinth; Rolf Hans bei Kunsthandel Draheim, Eltville und Josef Fischnaller, Horst Jansen, Ernst Ludwig Kirchner und Georg Kolbe bei Kunkel Fine Art, München) bis hin zu Arbeiten der jungen Künstlergenerationen. Es war eine gelungen Mischung aus Tradition und Innovation, aus althergebrachten Techniken wie Grafik, Zeichnung, Malerei, Collagen, Mixed Media. Raffinierte Reliefs, spektakuläre Skulpturen und imposante Installationen fielen ins Auge, darunter die dekorativen Schmuckstücke in Pastell aus der Serie »Flowerbeds« von Zhuang Hong Li (Smudjeschek Galerie, München); die wie Metallplastiken wirkenden, aber aus Papier gefertigten großen Tondi – das eine gelb, das andere blau – von Ursula Sax (Semjon Contemporary, Berlin); außergewöhnliche Wand- und Bodenobjekte aus bestickten Fotocollagen der in Essen lebenden Künstlerin Gisoo Kim (mianki. Gallery, Berlin); meisterhafte, zum Teil dreidimensionale Scherenschnitte von Annette Schröter und konvex-konkave Formen von Reinhard Wöllmer, die durch den Schattenwurf skulptural und sinnlich anmuten. Haptisch waren auch die zauberhaften Papierkompositionen von Katrin von Lehmann, in einer Glaskugel oder auf einem Tondo platziert. Sie teilte sich den Messestand der Kang Contemporary Berlin mit Frank Coldewey, dessen rohe, weißgestrichene Reliefs und Skulpturen einen interessanten Kontrast zu ihren verspielten und farbenfrohen Werken bildeten. Nicht zu übersehen war auch die raumgreifende Installation »From A to B« von Monika Goetz bei Schwarz Contemporary Berlin: Zwei mit schwarzen Kreidestrichen bedeckte Zeichnungen, minimalistisch in der Form, maximalistisch in der Wirkung.
Hardcover, Mezzotinto, Mapping
Außergewöhnliche Gebilde aus alten Büchern, Lexika und Alben zeigte der US-Amerikaner Brian Dettmer in der Hamburger Galerie Commeter. Er arbeitet wie ein Archäologe, legt verborgene Buchschichten offen, kehrt sie nach außen, schafft überraschende Verbindungen zwischen Buchstaben, Bildern und Worten, lässt den Betrachter hinter die Hardcover blicken. Sein faszinierendes Werk ist eine Hommage an das traditionelle Medium Buch, das dank diesem Künstler räumlich gelesen werden kann, ohne eine 3D-Brille aufsetzen zu müssen. Bemerkenswert war auch das Angebot von Jarmuschek und Partner: Die meisterhaften Mezzotinto von Majla Zeneli, die dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Tiefdruckverfahren durch Farbe oder Verbindung mit Fotocollage einen neuen Anstricht verpasst, und die Arbeiten aus der Serie »The Mapping Project« von Helene Hafemann: gebrauchte Zielscheiben, deren Löcher die Künstlerin mit Garn gestopft hat. Sie transformiert dadurch Gegenstände, die Schießübungen, also militanten Aktivitäten dienen, in zweckfreie Bilder. Die mit geflickten Stellen versehenen schwarz-weißen Scheiben muten beim genauen Hinsehen wie Landkarten unbekannter Kontinente oder Galaxien aus. Was die beiden Künstlerinnen der Galerie Jarmuschek und Partner verbindet, ist die Perfektion, mit der sie ihre kleinformatigen Werke gestalten. Die Galerie Martin Mertens zeigte kleine und mittelgroße Aquarelle und Mischtechniken von Peter Kriesel, auf den ersten Blick abstrakte und außerordentlich dynamische Landschaften, auf denen auch fragmentierte Körperteile zu erkennen sind und an die Welt nach einer Katastrophe denken lassen.
Nachtgestalten, Spuke und weibliche Siebdrucke
Es fehlte auch nicht an Bildern, die sich mit der weniger oder mehr abstrahierten menschlichen Figur befassten, zum Beispiel die zwölf geisterhaften »Nachtgestalten« von Aneta Kajzer bei conrads berlin, mit leuchtenden Ölfarben auf handgeschöpftem Papier gemalt; die unheimlichen, in Mischtechnik ausgeführten Porträts oder Doppelporträts von Frauen und Männern, denen lange Haarstränge aus dem Mund wachsen sowie die expressiven Tuschezeichnungen von Klaus Killisch mit zornigen, spuckenden und wie Spuke aussehenden Männerköpfen bei LAGE EGAL Berlin. Das Thema von Helēna Heinrihsone, einer Künstlerin der Māksla XO Galerja aus Riga, ist der weibliche Körper als Sinnbild von Freude und Qual, Anpassung und Auflehnung, Lust und Schmerz, Subjekt und Objekt der Begierde. Ihre flächigen Siebdrucke, für die sie meistens Signalfarben verwendet, zeigen Brüste und Rosen, kopflose Frauenfiguren, die sich zerreißen oder mit einer Axt auf den Rücken hauen. Sie sind zärtlich und brutal, ernst und ironisch: ein Spiel mit den Klischees, die sich um das »ewig Weibliche« ranken.
Männerakte, Gewaltakte, keine intakte Natur
Werke von Künstlern, die in Berlin leben oder längere Zeit hier verbrachten, präsentierte die Stuttgarter Galerie Thomas Fuchs. Zu sehen waren Rainer Fettings »Männerakt an der Berliner Mauer« (1987); zwei wunderbare Berliner Stadtansichten, die Ruprecht von Kaufmann auf seine unverwechselbare Art gemalt hat sowie die fragmentierten Menschenbilder von Logan T. Sibrel, die sich zwischen Intimität und zur Schaustellung, Routine und Abwechslung, Nähe und Distanz bewegen. Die im Iran allgegenwärtige Gewalt stellt dagegen sehr direkt Mojtaba Amini dar. Seine Collagen und Mischtechniken auf Sandpapier in der O Gallery aus Teheran zeigen brutale Szenen, Angst, Schrecken und Hoffnungslosigkeit. Eine scheinbare Harmonie herrscht auf den figurativ-abstrakten Ölbildern der Künstlerin Raha Khosroshahi, eine Harmonie, die sich bei genauer Betrachtung als Chaos entpuppt. Unheimlich sind auch die Kreidezeichnungen von Farzad Majidi, der die von Menschen beschädigte Natur und Kreatur auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht. Einen ganz anderen Weg geht Mykola Bilous, vertreten von der Tsekh Art Gallery (Kiew), der bestehende Gemälde verfremdet, indem er sich der inversiven Technik bedient und das Innere nach außen kehrt. Seine Acrylbilder auf Papier (und Öl) erinnern an die der Brücke-Künstler oder Andy Warhol, auch wenn ihnen ukrainische Vorlagen zugrunde liegen.
Die Paper Position 2023 war eine rundum gelungene Veranstaltung und fiel erneut durch hohe Qualität und große Bandbreite der präsentierten Kunstwerke aus Papier auf. Es war eine Freude, sie zu betrachten, auf sich wirken zu lassen und die Möglichkeit zu genießen, bei etlichen unter ihre Oberfläche zu schauen. Zu erleben war eine grenzüberschreitende und sich gegenseitig ergänzende Schau der gestalterischen und intellektuellen Fähigkeiten derer, die sie schaffen und derer, die sie vermitteln. Und weil diese Messe immer mehr Menschen anzieht und ein wichtiges Element des Berliner (und des internationalen) Kulturlebens ist, macht sich die Vorfreude auf ihre achte Edition 2024 schon jetzt breit.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
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25. – 28. April 2024
Deutsche Telekom Hauptstadtrepräsentanz
Französische Strasse 33 a-c, 10117 Berlin