Die Mutter der Manifeste
Die Mutter der Manifeste

Die Mutter der Manifeste

Cate Blanchett brilliert in 13 Rollen der Filminstallation »Manifesto« von Julian Rosefeldt, einer Opera Magna, die gegenwärtig im Hamburger Bahnhof aufgeführt wird.

Von Urszula Usakowska-Wolff

Die Lunte brennt und brennt, langsam breiten sich die Flammen aus und es fallen flammende Worte: »All that is solid melts into air«. Auch auf Englisch bedeutet es nichts anderes als im deutschen Original, nämlich »Alles Ständische und Stehende verdampft«. Mit diesem, einem längeren Satz entnommenen Zitat aus dem »Manifest der Kommunistischen Partei«, geschrieben von Karl Marx und Friedrich Engels, den Vätern aller Manifeste, und veröffentlicht im Februar 1848 in London, beginnt ein fulminantes Werk, eine Hommage auf die flammenden Kampfschriften, die vorwiegend von jungen Männern verfasst wurden als Aufruf an die Gesellschaft und die Kunst, alte Formen und Gewohnheiten zu zerstören, damit sich das Neue einen Weg bahnen kann: »Manifesto« von Julian Rosefeldt ist ein filmisches Epos mit Prolog, Handlung und Epilog, wobei es eigentlich unwichtig ist, an welcher Stelle der Streifzug durch die bildgewordene und wortgewaltige Welt der Manifeste beginnt. Alles ist fließend, und obwohl in den 13 Streifen, die parallel an den Wänden eines stockdunklen Raums im Hamburger Bahnhof laufen, wenig geschieht, ist es eine Opera magna, ein grandioses Spektakel, das fesselt, dem man gebannt folgt und nicht merkt, dass die Aufführung über zwei Stunden dauert.

Voller Lebensfreude und Energie

Es war eine Mammutaufgabe, die sich der 1965 in München geborene und in Berlin lebende Julian Rosefeldt stellte, um »Manifesto« zu verwirklichen. Er las unzählige Manifeste, woraus er 60 auswählte, sie auseinander pflückte, neu zusammensetzte und collagierte, woraus sozusagen ein Mega-Manifest entstand: ein Mix aus Manifesten von bildenden Künstlern, Schriftstellern, Architekten, Performern und Filmemachern, darunter Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, André Breton, Kasimir Malewitsch, Sol LeWitt, Claes Oldenburg, George Maciunas, John Reed, Lucio Fontana, Barnett Newman, Bruno Taut, Jim Jarmusch, Yvonne Rainer. »Es war für mich eine große Entdeckung, dass die Manifeste Künstlertexte voller Lebensfreude und Energie sind. Sie sind eben kein kunsthistorisches Material, das in eine Vitrine gehört, denn sie sind sprechbar, spielbar und erlebbar«, sagt Julian Rosefeldt. »Sie wurden meistens von jungen, zornigen und mit Testosteron geladenen Männern geschrieben, die ihren Vätern den Kampf angesagt haben. Sie wollten nicht nur die Kunst, sondern auch die Welt verändern. Es war für mich interessant, diese maskulinen Texte einer Frau zur Interpretation zu geben.«

Eine Frau mit 13 Gesichtern

Eine kongeniale Interpretin fand Rosefeldt in der australischen Schauspielerin Cate Blanchett, Jahrgang 1969, die in seinem neuesten Werk die Mutter aller Manifeste ist: eine Mimin, deren Wandlungsfähigkeit staunen lässt, die mit einer bewundernswerten Leichtigkeit in Rollen schlüpft und Charaktere verkörpert, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Diese Frau hat 13 Gesichter, die alle gleichermaßen überzeugen und beeindrucken. Ob als Obdachloser, Börsenmaklerin, Arbeiterin, Managerin, Punkerin, Wissenschaftlerin, Witwe, die eine Grabrede hält, Puppenmacherin, biedere Mutter, Choreografin, Lehrerin: Sie ist einfach unübertroffen. In einem der Filme tritt sie sogar in zwei Rollen auf: als Nachrichtensprecherin Cate, welche die Reporterin Cate interviewt. Das ist eine Leistung, ein Einfühlungsvermögen und eine Intelligenz, die man von einem Hollywood-Star eigentlich nicht erwartet. Mit wenigen Blicken und Gesten verleiht diese begnadete Schauspielerin den von ihr dargestellten Personen eine so starke Präsenz, dass der Zuschauer den Eindruck hat, nicht vor dem Bildschirm zu sitzen, sondern ein Teil des Geschehens zu sein. Wenn etwa die Puppenmacherin der Puppe, die wie ihr verkleinertes Ebenbild aussieht, mit Stecknadeln eine Mütze auf dem Kopf befestigt, spürt man die Stiche fast körperlich – und schaudert. Wenn die Managerin in einer privaten Veranstaltung einen Vortrag hält, und das gelangweilte Publikum nur darauf wartet, sich mit den Kanapees vollzustopfen und mit dem Wein zu betümpeln, um dann nach draußen zu stürmen und mit dem Handy zu spielen, wähnt man sich in einer »echten« Vernissage.

Unglaublich und atemberaubend

Es war ein glücklicher Zufall, dass sich die Wege von Cate Blanchett und Julian Rosefeldt kreuzten. 2010 wurde der Künstler mit dem Preis »Vattenfall Contemporary« ausgezeichnet und aus diesem Anlass wurden seine Filminstallationen in der Berlinischen Galerie gezeigt. Zur Ausstellungseröffnung kam auch Cate, die in der Schaubühne zu Besuch war. »Wir trafen uns damals zum ersten Mal, und weil sie schon früher Sachen von mir gesehen hatte, schlug sie mir spontan vor, etwas zusammen zu machen. Diesen Gedanken fand ich wahnsinnig attraktiv, und er hat mich nicht losgelassen. Als Cate bei den Dreharbeiten zu den >Monuments Men< längere Zeit in Berlin war, habe ich sie mit der Idee von >Manifesto< konfrontiert, und sie fand das spannend«, sagt Julian. »Manifesto« wurde in einer Rekordzeit von nur zwölf Tagen in Berlin und Umgebung gedreht: »Was Cate geleistet hat, ist unglaublich. Jede Figur, die sie verkörpert, hat eine andere Haltung, eine andere Maske, spricht einen anderen englischen Akzent, mal schottisch, mal texanisch und so weiter. Manchmal mussten wir aufgrund von Logistik zwei Figuren an einem Tag drehen, sie musste sich vom Obdachlosen in eine amerikanische Nachrichtensprecherin verwandeln. Wie sie das hingekriegt hat, ist wirklich atemberaubend.«

Poetische Worte und prosaisches Leben

Julian Rosefeldts »Manifesto« ist somit auch eine Hommage auf Cate Blanchett. Es ist in der Tat unglaublich, wie authentisch und lebendig sie in jeder Rolle agiert und wie aktuell die von ihr gesprochenen und manchmal auch gesungenen Texte sind. Es ist auch eine große Leistung des Drehbuchautors und Regisseurs in einer Person, dass diese 13 Filme so lebensnah und manchmal von so einer umwerfenden Komik sind, obwohl da Textcollagen rezitiert werden, die aus recht alten theoretischen Schriften stammen und mit der Gegenwart scheinbar nichts zu tun haben. Die Verbindung von eben diesen Texten mit mehr oder weniger alltäglichen Szenen ist wohltuend komisch und tragisch zugleich, denn sie zeigt, dass wir in einer Zeit leben, wo die Worte ihre Macht verloren haben. Unabhängig davon, wer zu wem oder was spricht, hören die anderen nicht zu. Da sieht man auf den Gesichtern der Trauernden, denen es gleichgültig ist, ob der Tod des Dadaismus oder etwas anders beweint oder gar belächelt wird. Die Menschen sind in ihren Ritualen gefangen, sie gehen zu einem Vortrag oder zu einem Begräbnis, und warten sehnsüchtig darauf, dass die Reden zu Ende gehen, denn dann gibt es etwas zu essen. So prosaisch ist eben das Leben, auch wenn die Worte reinste Poesie sind. Dazu gehören auch die Utopien: Sie lesen und hören sich gut an, doch sie haben mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Was von Utopien und Visionen bleibt, sind postindustrielle Ruinen, Mondlandschaften an den Rändern und Wohnsilos mitten in der Stadt. »Manifesto« zeigt auch die faszinierende Hässlichkeit Berlins, einer Stadt, die an vielen Stellen auch in Wirklichkeit so aussieht, als sei sie von einer Katastrophe heimgesucht worden. Es ist nicht wichtig, ob man Sätze, die Cate Blanchett auf Englisch in die Runde schmeißt, versteht. Denn in regelmäßigen Intervallen erscheint auf jedem der Bildschirme ihr jeweiliges Gesicht, sodass die Worte sich in einem Chor auflösen. Einem antiken Chor, in dem heute eine Frau mit 13 Gesichtern und ihrem unverkennbaren eigenen Gesicht die Hauptrolle(n) spielen darf: Cate Blanchett und Julian Rosefeldt sei Dank!


Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
VG Wort, VG Bild-Kunst Bonn, 2016

Erschienen im strassen|feger 4/2016


Julian Rosefeldt

Manifesto

10.02. – 18.09. 2016

Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin
Invalidenstraße 50 – 51
10557 Berlin

www.julianrosefeldtinberlin.de

Katalog
Deutsch / Englisch
Preis der Museumsausgabe: 27 Euro