Der Gegensatz zwischen dem Künstler und seinem Werk könnte nicht größer sein: der in New York lebende Schotte Douglas Gordon ist ein kleines Energiebündel. Er ist immer in Bewegung. Auch wenn er sitzt, sitzt er nicht still. Immer wieder schlägt er ein Bein über das andere, streckt die Füße aus, bewegt den Kopf und gestikuliert mit den Händen. Der agile, dynamische, vor Lebensfreude und Witz strotzende Mann schafft weitgehend statische Kunstwerke, die – paradoxerweise – aus bewegten Bildern bestehen und die düstere Seite der Existenz: die Vergänglichkeit, den Verlust, die Krankheit, die Sünde, das Böse und den Tod zum Thema haben. Er arbeitet vorwiegend mit vorgefundenem Material: mit alten Schwarz-Weiß-Filmen, die er von ihrem Soundtrack trennt und maximal verlangsamt, sodass sie extrem in die Länge gezogen werden und fast zum Stillstand kommen. In einer leer geräumten New Yorker Gallery nahm er einen dressierten Elefanten auf, der seinen Tod mimte. Er filmte eine auf dem Rücken liegende Fliege, die wirklich starb. Douglas Gordon offenbart sich als ein Künstler, der den Augenblick offensichtlich verweilen lässt, nicht weil er so schön ist, sondern um zu zeigen, dass Stillstand auch eine Art Fortbewegung sein kann.
Neue Dimension der Komposition
Der 1966 in Glasgow geborene Douglas Gordon erlebte einen kometenhaften Aufstieg in die erste Kunstliga und gehört seit einem Jahrzehnt zu den international bekanntesten Medienkünstlern seiner Generation. Er ist ein minimalistischer Maximalist: mit minimalen Eingriffen erzielt er eine maximale Wirkung, über die die Kunstwelt immer wieder staunt, begeistert ist und ihn mit Ehrungen überhäuft. 1996 erhielt er den Preis des Kunstvereins Hannover und den angesehenen britischen Turner-Preis. Ein Jahr später war er die Entdeckung der Biennale von Venedig, die ihn mit dem Premio 2000 bedachte. 1997 wurde ihm in New York der Hugo-Boss-Preis verliehen. Doch den vorläufigen Höhepunkt seiner Kariere kann man gegenwärtig fernab der Kunstmetropolen im niedersächsischen Wolfsburg erleben. Das dortige Kunstmuseum, das über eine beachtliche Sammlung der Arbeiten des schottischen Medienkünstlers verfügt, richtet ihm eine große Einzelpräsentation aus, die wie ein atemberaubendes Gesamtkunstwerk anmutet. Die Schau unter dem Titel Between Darkness and Light besteht aus elf Videoinstallationen (zum überwiegenden Teil auf riesigen semitransparenten Projektionsfolien, die beiderseitig bespielt werden), drei Textinstallationen und hundert Fotos, die in einer Black Box, derzeitig der größten in Deutschland (40 x 40 x 16 m), präsentiert werden. Die geräumige Ausstellungshalle im Untergeschoss des Museum wurde mit schwarzer Farbe bemalt und zum ersten Mal in der Geschichte des Kunstmuseums in Wolfsburg wurde auch sein Glasdach abgedunkelt. Die Wirkung ist überwältigend, denn das Publikum bewegt sich in einer fast völligen Dunkelheit, die nur durch die Bildschirme aufgehellt wird, auf denen vorwiegend Schwarz-Weiß-Filme flimmern. Beim Vorbeigehen werfen die Menschen Schatten auf die riesigen Projektionsfolien und werden auf diese Weise zu handelnden Personen, zu einem integralen Teil des Kunstwerks, das das Höhlengleichnis von Platon jeden Tag der Ausstellungsdauer neu inszeniert.
Douglas Gordon ist es gelungen, eine neue Dimension, eine multimediale Komposition im Raum und den Übergang von der Dekonstruktion zur Synthese zu schaffen. Das ist ein eigenständiges Kunstwerk, die sixtinische Kapelle der Medienkunst,
sagt Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg.
Die Kapelle ist eine Höhle
Das klingt gut und ehrt den Künstler, geht aber an seinem Werk etwas vorbei. Der aus einer streng gläubigen calvinistischen Familie stammende Douglas Gordon hat kein Interesse an den Höhen, sondern an den Tiefen der menschlichen und der tierischen Kreatur. Seine Kapelle ist eher eine Höhle oder gar eine Gruft, ein dunkler anziehend-beängstigender Raum mit vielen düsteren Projektionsflächen für Phobien, Hysterien und Zwangshandlungen, die häufig im Dunklen ausgelebt werden, denn kämen sie ans Tageslicht, könnten sie Unheil anrichten, was man ja auf seinen Filmen schwarz auf weiß und manchmal auch in Farbe sieht. Sie sind der Spiegel, den der Künstler dem Publikum vorhält. Der Titel der Ausstellung Zwischen Dunkelheit und Licht ist Programm und entstammt seiner gleichnamigen Videoinstallation (1997), in der auf einer semitransparenten Projektionsfolie zwei Filmklassiker: Das Lied der Bernardette (1943) von Henry King und der 30 Jahre später von William Friedkin gedrehte Exorzist mit den berühmt-berüchtigten Szenen der Teufelsaustreibung, die die Protagonistin Regan erleidet, gleichzeitig ausgestrahlt werden, sodass sich die Bilder der Heiligen mit denen der vom Teufel besessenen vermischen. Man sieht unverkennbar, dass beide Frauen gleichermaßen lustvoll besessen sind: die eine vom Allmächtigen, die andere vom Fürsten der Finsternis. Das Gute und das Böse, der Schmerz und die Lust sind nicht weit voneinander entfernt, wie Licht und Dunkelheit, denn ohne Licht sieht man in der Dunkelheit bekanntlich nichts.
Erinnerung durch Wiederholung
Mehr Licht gibt es in der Wolfsburger Gruft des renommierten Medienkünstlers nicht, dafür aber viel zu sehen, denn die Dunkelheit schärft die Sinne und die Spiegel, die an den Wänden hängen, dehnen den Raum und das Blickfeld fast ins Unermessliche aus. Was man erlebt, ist ein faszinierendes Verwirrspiel aus verfremdetem Altbekannten, aus dem Verborgenen, das Sichtbar wird: Der Filmklassiker Psycho von Alfred Hitchcock dauert als 24 Hour Psycho einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Der einzige Held des abendfüllenden Future Film (1999) ist der Dirigent James Conlon, auf seine Mimik und Gestik reduziert, während er das 98-köpfige Orchester der Pariser Oper bei der Aufführung der Musik von Vertigo, einem anderen geheimnisvollen Klassiker von Hitchcock, dirigiert. Die halbnackten üppigen Damen in der Videoinstallation Black and White (Babylon) von 1996 strippen in Zeitlupe abwechselnd auf dem Boden und auf dem Kopf und verlieren dadurch jede erotische Ausstrahlung. Der Elefant (Play Dead: Real Time, 2003) fällt immer wieder tot auf den Boden und richtet sich danach auf. Und ewig zuckt die Fliege im B-Movie (1995). Das Serielle, also das, was sich fortwährend wiederholt, ist für das Werk von Douglas Gordon essentiell. Die Vorlagen für seine früheren Videoinstallationen ist historisches Dokumentationsmaterial: Meisterwerke der Kinematografie, Musik, die ihre Dramatik und Spannung erhöht, Dokumentarfilme über Patienten mit psychischen oder motorischen Störungen, die Anfang des vorigen Jahrhunderts aufgenommen wurden und die in den 1950er Jahren illegal aufgenommene Filme von Stripperinnen. Sie sind für ihn ein Teil der kollektiven Erinnerung, die im menschlichen Gedächtnis, wie alles Vergangene, nur in Sequenzen und Bruchstücken gespeichert ist. Diese Sequenzen und Bruchstücke, Musikfragmente und Geräusche, die Bilder hervorrufen, welche wiederum Erinnerung in Gang setzten, sind das Wesen seiner um die Erinnerung kreisenden Kunst. Weil die Erinnerung lückenhaft, selektiv, blass, entstellt und nicht linear ist (man behält sowohl erhabene als auch banale Ereignisse im Gedächtnis, die aus verschiedenen Zeiten stammen) und weil ohne Wiederholung des Vergangenen die Erinnerung ausgelöscht wird, haben die Arbeiten von Douglas Gordon einen zwanghaft repetitiven Charakter: Er spult die Bilder zurück, überlagert, beschleunigt oder verlangsamt, vergrößert oder verkleinert sie und schafft damit eine suggestive Mischung zwischen Daumenkino und Kino im Kopf.
Das essentielle Serielle
Unabhängig davon, ob Douglas Gordon mit historischem Film- und Fotomaterial oder mit dem Text arbeitet, fällt überall sein Interesse für das Serielle auf. Die Fotoinstallation 100 Blind Stars (2002) versammelt Kultschauspielerinnen und Kultschauspieler, die in den 1940er und 1950er Jahren vergöttert wurden: unter anderem Bette Davis, Kim Novak, Elisabeth Taylor und Cary Grant. Der schottische Künstler schnitt ihnen die Augen aus, unterlegte sie mit weißem oder schwarzem Papier oder mit Spiegeln. Die Stars, die (auch mit intakten Augen) in unnatürlich aufreizenden oder monumentalen Posen als Kultobjekte und zeitgenössische Ikonen verewigt wurden, wirken dadurch umso unnatürlicher: wie Masken oder antike Büsten, entrückt und zugleich nahe, denn sie sind eine Projektionsfläche für unsere verborgenen Wünsche nach Schönheit und ewigem Ruhm. Während die ausgeschnittenen Augen das Hauptthema dieser Werkreihe sind, spielt ein abgeschnittener Kopf im 30 Seconds Text (1996) die Hauptrolle. In einem nur von einer kargen Glühlampe beleuchteten Raum wird ein Text an die Wand projiziert, der ein 1905 in Montpellier durchgeführtes Experiment beschreibt, bei dem man herausfand, dass ein Mensch offensichtlich noch dreißig Sekunden bei Bewusstsein bleibt, nachdem sein Kopf guillotiniert wurde. Dreißig Sekunden braucht man auch, um den Text zu Ende zu lesen. Danach erlischt das Licht und man ist von völliger Dunkelheit umgeben. Douglas Gordon hält nicht nur die Erinnerung an die mitnichten unsterblichen Stars und das kurze posthume Leben des zum Tode Verurteilten wach. Seit 1990 führt er die List of Names, eine Textinstallation, die aus der fortlaufenden Namensliste jener Personen besteht, die er im Laufe der Jahre begegnete oder begegnen wird. Bisher sind es 3600 Namen von Prominenten und Unbekannten, von Bekannten, flüchtigen und zufälligen Bekanntschaften des Künstlers. Ein anderes Denkmal baut(e) er für sich selbst: eine flimmernde Installation aus fünfzig Monitoren, die seine Arbeit seit 1992 dokumentieren. Der überlange und unpräzise Titel Pretty Much Every Film and Video Work from About 1992 Until Now, To be Seen on Monitors, Some with Headphones, Others Run Silently and Simultaneously zeigt, dass der Künstler, der durchaus (tod)ernste Themen aufgreift, seine Kunst durchaus ironisch und mit einer wohltuenden Distanz behandelt. Seine letzte, 2007 in Wolfsburg entstandene Fotoarbeit, die er dem Kunstmuseum schenkte, ist autothematisch. Sie heißt Psycho Hitchhiker (Coming and Going), spielt an 24 Hour Psycho an und zeigt Douglas Gordon als Anhalter, der an einer Ausfahrtstraße aus der VW-Stadt steht, mit einem Trenchcoat bekleidet, unter dem er seinen nackten Oberkörper verbirgt. Mit der linken Hand presst er sein Handy ans Ohr. In der rechten hält er das Schild mit der Aufschrift Psycho als Fahrtziel.
Es ist nicht bekannt, ob er auf eine Fahrgelegenheit 24 Stunden warten musste.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Douglas Gordon
Between Darkness an Light. Werke 1989 – 2007
Kunstmuseum Wolfsburg
21.04. – 12.08.2007