Am 28. Dezember 2014 starb die Fotografin Gerda Schimpf, Zeugin eines ganzen Jahrhunderts. Am 14. März 1913 als Einzelkind in einer bürgerlichen Familie in Dresden geboren, zog sie später mit ihren Eltern nach Leipzig. Nach dem Besuch des dortigen Goethe-Gymnasiums wollte die 20-Jährige Fotografie am Bauhaus in Dessau studieren, doch es wurde 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen. So suchte sie sich in Leipzig einen Ausbildungsplatz bei der Fotografin Dore Barthky. 1935 lernte sie den Zeichner Max Schwimmer kennen, dessen Freundin und Muse sie wurde. Ihre Freundschaft verewigte der Künstler in 500 illustrierten Briefen, die er seiner »Engelsgerdine« schrieb. 1937 ging Gerda Schimpf nach Berlin, wo sie in einem Fotobetrieb in Heiligensee die Ausbildung zur Fotografenmeisterin absolvierte. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie in verschiedenen Fotostudios und machte tausende Porträts und Familienfotos; für die Städtischen Elektrizitätswerke, die Messegesellschaft und die AEG fertigte sie Werbeaufnahmen. 1946 eröffnete Gerda Schimpf ihr eigenes Fotoatelier am Witzlebenplatz, musste es aber nach der Währungsreform aufgeben. Sie richtete es also in ihrer Wohnung im Westend ein, wo sie Soldaten der alliierten Truppen, Persönlichkeiten aus Politik und Kultur wie die Berliner Oberbürgermeisterin Louise Schroeder, die Künstlerinnen und Künstler Eva Schwimmer, Renée Sintenis, Karl Hofer, Bernhard Heiliger und viele andere Bekannte und Unbekannte porträtierte. Parallel dazu machte sie hunderte Architektur-, Industrie-, Werbe- und Modeaufnahmen. Von 1959 bis 1978 arbeitete sie als Fotografielehrerin im Lette-Verein Berlin.
Der strassen|feger hatte das Glück, diese außergewöhnliche Frau und Künstlerin persönlich kennen zu lernen. Wir begegneten ihr zum ersten Mal am 29. August 2013 bei der Eröffnung der Ausstellung »Arte Postale« in der Akademie der Künste, wo einige der Briefe Max Schwimmers an »Gerdine« gezeigt wurden. Das war der Anfang einer wunderbaren Bekanntschaft, denn Gerda Schimpf lud uns wiederholt in ihre Wohnung ein, in der sie seit 1941 lebte. Obwohl sie damals 100 Jahre alt war, hatte sie eine mädchenhafte Stimme, ein jugendliches Aussehen und ein hervorragendes Gedächtnis. Als wir sie in der Ausgabe »Lebenskunst« im Oktober 2013 aufs Titelbild brachten, scherzte sie, dass sie über 100 werden musste, um die Karriere eines Covergirls zu starten.
Gerda Schimpf, die fast ein halbes Jahrhundert als Fotografin tätig war, hatte sich um ihre Karriere nie gekümmert. Ihre Fotoarbeiten wurden nie ausgestellt. Deshalb ist sie als Fotografin fast gänzlich unbekannt. Sie hinterlässt ein riesiges Archiv, das sie in ihrer Wohnung aufbewahrte. Nur ein Konvolut mit 57 Fotografien aus den Jahren 1945 – 1976 mit Porträts, Messe- und Werbeaufnahmen hatte sie vor einiger Zeit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben. Hoffentlich wird sich jetzt, nach ihrem Tod, jemand finden, der dieses einzigartige dokumentarische und künstlerische Werk für die Öffentlichkeit erschließt. Das hat Gerda Schimpf verdient: eine bescheidene Frau, eine große Dame und große Künstlerin, die nie darauf bedacht war, sich in den Vordergrund zu drängen.
Ruhe in Frieden, Gerda! Wir werden Deine sonnige Ausstrahlung, Deinen Charme, Deinen Witz und Dein bezauberndes Lachen nie vergessen. Wir werden Dich vermissen und alles tun, damit Dein Lebenswerk endlich bekannt und gebührend gewürdigt wird.
Nachruf © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 2/2015
Max Schwimmers Briefe an Gerda Schimpf, Galerie Leo.Coppi >>>