An der Wand über dem Kamin hängen dutzende Bilder: Zeichnungen und Aquarelle, expressive Frauenporträts und Frauenakte. Neben dem Kamin steht ein imposanter Holzstuhl. Er hat eine hohe geflochtene Rückenlehne mit gewundenen Säulen und feinen Reliefschnitzereien. Dieses alte Möbelstück, einem Thron ähnlich, sieht wie neu und recht unbenutzt aus. Nur die hellen Stellen auf dem Holz der Armlehnen deuten darauf hin, dass es häufig in Gebrauch genommen wurde. »Das ist ein Renaissance-Sessel«, erklärt Gerda Schimpf. »Hier in diesem Raum habe ich viele Leute aufgenommen. Wie viele es waren, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gezählt. Es gefiel mir einfach, sie zu fotografieren. Sowjetische Soldaten habe ich auch hier fotografiert. Sie setzten sich hin, ganz gerade, und hielten einen Wecker in den Händen. Ihre Epauletten und der Wecker mussten genau zu sehen sein. Dann kamen die Engländer, sie wollten auf den Porträts eine ganz zarte Haut haben und schön retuschiert sein. Das habe ich alles durchgemacht. Es war die Zeit nach dem Krieg, wo es nichts zu essen gab. Sie brachten mir manchmal ein Stück Brot, dann war ich darüber glücklich. Aber es musste immer alles, das war schlimm, sofort oder ganz schnell gehen, also heute Aufnahmen und am liebsten in ein paar Stunden schon die Bilder. Na gut. Ich versuchte es und es klappte. Ich habe auch viele Kinder fotografiert. Ein kleines Wesen in so einem großen Renaissance-Sessel, das ist doch sehr bildhaft.«
Wie in Trance
Das Kaminzimmer mit dem Renaissance-Sessel ist ein wichtiger Teil der Wohnung, in der Gerda Schimpf seit 1941 lebt. Hier hatte sie bis Mitte der 1970er Jahre ihr Atelier, in dem sie Menschen porträtierte: unbekannte und prominente, hunderte Gesichter, darunter nicht wenige, die das Gesicht Nachkriegsdeutschlands, vor allem das von Berlin, prägten. Dazu gehören Politiker, Künstler und Wissenschaftler, die einen vergessen, die anderen bis heute berühmt oder nach Jahren wiederendeckt und gefeiert: Louise Schröder, Renée Sintenis, Eva Schwimmer (aus deren Hand die über dem Kamin hängenden Bilder stammen), Karl Hofer, Bernhard Heiliger, Heinz Trökes, Hans Blüher, Eilhard Alfred Mitscherlich oder Alexander Dinghas. Und obwohl Gerda Schimpf auch unzählige Aufnahmen machte, die das Wirtschaftswunder, Industrie, Architektur und Werbung jener Zeit dokumentieren, war ihr die Porträtfotografie am liebsten. »Ich machte gern Porträts, die Leute sind zu mir gekommen oder ich bin zu ihnen gegangen. Vor jedem Auftrag besonderer Art war ich aufgeregt, ich dachte, ich schaffe es nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich während der sowjetischen Blockade von Louise Schröder, unserer ersten Oberbürgermeisterin hier in Berlin, ins Rote Rathaus bestellt wurde, denn da waren wir richtig noch eine Stadt. Louise Schröder hatte natürlich keine Zeit, das Telefon klingelte ununterbrochen, und ich musste sehen, wie ich zwischendurch eine Aufnahme mache. Kein Kleinbild etwa mit Knips, Knips, Knips, sondern eben eine Aufnahme mit einer 9 x 12 cm Spiegelreflexkamera, aus der ich immer wieder eine Kassette rausnehmen und sie dann reinlegen musste. Das war schon sehr aufregend. Da musste ich irre schnell, wie in Trance, arbeiten, doch das Ergebnis war in Ordnung.«
Riesiges unbekanntes Werk
Gerda Schimpf hat viel zu erzählen: über die Zeit nach dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg, über ihre Arbeit und ihr Leben im Dritten Reich, über die Berliner Kunstszene vor und nach 1945, über ihre Freundschaften mit Malerinnen, Bildhauern und Wissenschaftlern. Doch es hat sich bisher niemand gefunden, der die Geschichte und Geschichten dieser emanzipierten, selbstbewussten, doch viel zu bescheidenen Frau detailliert aufschreibt und sie als bedeutende und eigenständige Fotografin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigt. Die mädchenhaft wirkende filigrane Gerda Schimpf wurde am 14. März 2013 101 Jahre alt. Ihr riesiges fotografisches Werk ist weitgehend unbekannt. Das wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ändern, denn sie hat sich früher nie um ihre Karriere gekümmert, wie soll sie das jetzt, in »dem Alter«, tun? Wenn ihr Name in Kunstkreisen und Kunstbüchern auftaucht, dann meistens in Verbindung mit dem Leipziger Maler und Zeichner Max Schwimmer. Sie war seine Geliebte und Muse, ist zu hören und zu lesen, die er malte und verehrte, doch sie wollte offensichtlich mehr sein. Nach der Fotolehre in Leipzig ging sie 1937 nach Berlin und wurde in einem Betrieb in Heiligensee zur Fotomeisterin ausgebildet. Bis 1940 schrieb Max Schwimmer ihr 500 Briefe, die er mit aufreizenden Aquarellen seiner »süßen kleinen Gerdine« illustrierte. »Die Briefe habe ich ganz vergessen, denn sie lagen in einem Karton auf dem Dachboden«, sagt Gerda Schimpf. »Als der Dachboden vor den Bombenangriffen geräumt werden musste, fand sie der Hausmeister und brachte sie mir.« Nach der Wende schenkte Gerda Schimpf 200 Briefe der Leipziger Stadtbibliothek, die den Max-Schwimmer-Nachlass verwaltet. 100 Briefe wurden vom Archiv der Akademie der Künste erworben, die einige davon im letzten Quartal des vorigen Jahres in der Gruppenschau »Arte Postale« am Pariser Platz 4 in Berlin zeigte.
Überzeugend und authentisch
Als Fotografin kann Gerda Schimpf nicht bekannt sein, denn sie hatte bisher keine Gelegenheit, ihre Arbeiten in Berlin oder woanders auszustellen. Ein Konvolut mit einem Bruchteil ihrer Arbeiten aus den Jahren 1945-1976, genau 57 Negative, hat sie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz übereignet. Wenn man sich Mühe macht und lange googelt, findet man Gerdas Bilder auf der Website des SPK-Bildarchivs. Doch die Betrachtung der Fotografien ist erschwert, denn sie sind mit einem großen Logo versehen. Wer sie genauer ansehen oder veröffentlichen möchte, muss sie kaufen. Das ist völlig normal und auch bei anderen Agenturen üblich, aber es erschwert ihre Verbreitung, ihre Präsentation und Rezeption. Schade, denn viele dieser Fotografien, vor allem die Porträts von den damals wie heute noch berühmten Persönlichkeiten, haben nicht nur eine dokumentarische, sondern auch eine beachtliche künstlerische Qualität. »Ich habe am liebsten Menschen in ihrer Umgebung fotografiert«, sagt Gerda Schimpf. »Das war mein Stil, aber er gehörte in die Zeit.« Es sind keine geschönten Porträts, sie sind überzeugend und authentisch. Sie zeigen faltige Gesichter und Hände, wie die von Renée Sintenis, Karl Hofer, Willi Robert Huth, Alexander Dinghas oder Louise Schröder. Ihre Bildnisse sind nicht retuschiert, ihre Haut glänzt, ihre Blicke sind melancholisch, traurig, häufig müde und ausgebrannt. »Junge Menschen zu fotografieren ist nicht schwer, denn sie sind einfach nur hübsch. Ich habe gern alternde und alte Gesichter aufgenommen, denn ein altes Gesicht ist etwas Schönes«, sagt Gerda Schimpf.
Ungebunden und unabhängig
Dass sie selbst so lange leben wird, überrascht sie, denn sie hat dafür nichts Besonderes getan. Sie war immer offen und neugierig auf die Welt und die Menschen und beeindruckte sie mit ihrem jugendlichen Elan. Die Tatsache, dass sie als Fotografin nicht wahrgenommen wird und die Kunstwelt von ihr keine Notiz nimmt, kann ihre gute Laune nicht trüben. Zum einen »nennt sich heute jeder, der knipsen kann, ein großer Künstler, während ich bloß nur eine Fotografin war.« Zum anderen hatte sie ein glückliches Leben, denn sie tat immer das, was sie für richtig hielt, war selbstständig, ungebunden, von niemand abhängig. »Wahlverwandtschaften mit Freundinnen und Freunden waren mir wichtiger als Familie«, betont sie. Ihrer letzten großen Liebe begegnete sie mit 80. »Das war ein Berliner Arzt, ein Mann mit kolossaler Ausstrahlung, mit dem ich damals ein neues Leben anfing. Wir wohnten aber nie zusammen, obwohl wir jeden Tag viel Zeit miteinander verbrachten«, erzählt sie. »Ich war eigentlich stets zufrieden und bin es noch immer, obwohl ich körperlich nicht mehr ganz fit bin. Je älter man wird, umso mehr muss man sich darüber freuen, was einem noch so entgegenkommt. Es gibt auch schlimme Dinge im Leben, doch das alles gehört einfach dazu. Nur Zuckerbrot wäre doch schrecklich!«
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 5/2014
Max Schwimmers Briefe an Gerda Schimpf, Galerie Leo.Coppi >>>