Gravitätisch, statuarisch, archaisch
Gravitätisch, statuarisch, archaisch

Gravitätisch, statuarisch, archaisch

Das Haus am Lützowplatz wartet mit einer außergewöhnlichen Ausstellung auf. Gezeigt werden die »Berliner Köpfe – 100 Lichtzeichnungen« des Hamburger Fotografen Jacques H. Sehy, die erst auf den zweiten Blick offenbaren, dass es sich um Porträts von Prominenten aus der hauptstädtischen Kulturszene handelt. 

 »Dahinter steckt immer ein kluger Kopf« lautet der Werbeslogan einer großen überregionalen Tageszeitung. Bei der Besichtigung der Ausstellung im Haus am Lützowplatz hat man den Eindruck, dass hinter dem Berliner Kulturbetrieb einhundert kluge Köpfe stecken. Der 1945 in Stockhausen bei Wetzlar geborene und in Hamburg lebende Jacques H. Sehy hat die kreative Hundertschaft fotografiert, um, wie er sagt, »Persönlichkeiten mit Esprit und Gestaltungskraft, deren Wirkung weit über die Metropole hinaus spürbar ist«, eine Hommage zu erweisen. Sie sind jene »Protagonisten, die in der Stadt der unendlich scheinenden Möglichkeiten und der unerforschten Nischen jenseits des Mainstreams den Kulturhumus dieser Szene bilden und pflegen.«

Graue Eminenzen in Schwarz-Weiß

Das mit dem »jenseits des Mainstreams« stimmt nicht so ganz, denn die »Berliner Köpfe« sind vor allem eine schwarz-weiße Schau grauer Eminenzen. Fast alle, die in der Kulturmetropole an Havel und Spree Rang und Namen haben und die Fäden ziehen, sind in dieser Porträtgalerie versammelt. Sie sind Stammgäste der Vernissagen, Konzerte, Opernpremieren, Kunstmessen und Festivals, Macherinnen und Macher der Kulturevents, Kunstsammler, Inhaberinnen und Inhaber der Kunst- und Medienagenturen, Museumsdirektorinnen und Direktoren, Präsidenten wichtiger Institutionen, die tatsächlich den Nährboden der Berliner Kultur bilden und darüber entscheiden, wer oder was darauf gedeihen darf. Ein illustrer Kreis, der in den besten, das heißt in den eigenen Kreisen verkehrt. Man kennt sie vom Sehen oder vom Hörensagen: Peter Raue, den Rechtsanwalt und Kunstliebhaber mit der Fliege, Catherine von Fürstenberg-Dussmann, die blond gelockte Konzernherrin, Adrienne Göhler, die ehemalige Senatorin mit den großen rot geschminkten Lippen, Monika Grütters, die ewig lächelnde Staatsministerin, Bazon Brock, den Dauerredner, Universalgelehrten und selbsternannten Propheten, Friedel Drautzburg, den Kultkneipier mit dem Schnauzer und der Schiebermütze, Dieter Kosslick, den Berlinale-Chef mit dem roten Schal, Nikolai Makarov, den Künstler und Galeristen mit dem Rasputin-Bart. Und die anderen 92, die mehr oder weniger Aufsehen erregend in Erscheinung treten. Es sind bekannte Leute von gestern und heute, die das Kulturimage Berlins prägen. Manche ein bisschen schräg und auffallend. Mainstream der gehobenen Art.

Physiognomie wie Kalligrafie

Doch wer meint, in der Ausstellung »Berliner Köpfe« eine Porträtgalerie mit gefälligen Selbstdarstellungen eines Teils der hiesigen Kulturelite besichtigen zu können, wird zum Glück angenehm enttäuscht. Das Ergebnis des dreijährigen und größtenteils selbstfinanzierten Projekts von Jacques H. Sehy kann sich aus jeder Perspektive sehen lassen. Obwohl die Schau aus einer dreiteiligen Installation besteht, deren Grundlage die besagten einhundert Bildnisse sind, wirkt sie minimalistisch und auf den ersten Blick monochrom. Wenn wir das Haus am Lützowplatz betreten, nehmen wir zu Beginn große oder kleinere schwarze Tableaus und schmale schwarze Papierbahnen wahr. So entsteht hie und da der Eindruck, es mit einer Neuauflage von Kasimir Malewitschs Meisterwerk »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« einhundert Jahre nach dessen Entstehung zu tun zu haben. Wenn wir uns den Tableaus nähern, tauchen darauf etwas überraschend weiße und filigrane Zeichen auf. Ist das ein Alphabet, welches Buchstaben wie etwa das Y, das G, das T, das F, das lateinische und kyrillische E beinhaltet? Sehen wir auf den Papierbahnen fernöstliche Kalligraphie, die zum Meditieren anregen soll? Es ist ein aufregendes Verwirrspiel, das der Fotograf mit den »Berliner Köpfen« und den Köpfen des Publikums treibt. Doch das ist noch lange nicht alles, denn wenn wir unmittelbar vor den Tableaus stehen, merken wir, dass sie sich aus mehreren Einzelbildern zusammensetzen. Erst jetzt erkennen wir, dass darauf Gesichter, genauer Fragmente der Physiognomien wie Augen, Ohren, Kinne, Lippen, Hälse und Stirne, häufig mit Falten bedeckt, zu sehen sind.

 Ein wenig Licht im Gesicht

Jacques H. Sehy hat in den 1960er Jahren als Modefotograf angefangen. Später konzentrierte er sich auf die Musikbranche, seit zehn Jahren macht er Business-Porträts für Consulting-Firmen. Doch seine große Leidenschaft sind analoge Lichtzeichnungen, welche an das Anfang des 19. Jahrhunderts von Joseph Nicéphore Niépce erfundene Verfahren der Heliografie, die weltweit erste fotografische Technik, anknüpfen. Die »Berliner Köpfe« wurden in einem kleinen Raum aufgenommen, den dem Fotografen eine Berliner Galerie zur Verfügung stellte. Jacques H. Sehy hielt eine Stablampe in der Hand, mit deren Licht er Linien auf die Gesichter der auf einem Hocker bewegungslos sitzenden Porträtierten zeichnete und sie mit einer lange belichteten analogen Kamera filmte. Jede Séance dauerte zwischen zehn und 15 Sekunden. Die Männer mussten ihre Oberkörper, die Frauen ihre Hälse entblößen. Sie durften keine Kopfbedeckung, keine Brille, keine Uhr, keinen Schmuck tragen. Sie harrten in der Dunkelheit still aus – und für kurze Zeit spürten sie ein wenig Licht im Gesicht. Das Resultat sind verblüffende Konterfeis, die sich zwischen Verhüllen und Enthüllen bewegen, Charaktere, die der Fotograf vor allem in den Augen und Mündern ortet. Die Münder all jener, die den »Kulturhumus« hegen und pflegen, sind sehr ernst. Nur Monika Grütters lacht. Die Lichtzeichen auf den sichtbaren Gesichtspartien muten wie Tattoos eines exotischen Stammes an. Dadurch wirken die Porträts gravitätisch, plastisch, ja geradezu statuarisch und archaisch.

 Köpfe und Worte

Jacques H. Sehy lebte von 1965 bis 1975 in West-Berlin. Aus dieser Zeit kennt er einige »alte Knaben und alte Mädchen«, die noch immer eine wichtige Rolle im Berliner Kulturleben spielen und die ihm geholfen haben, sein Projekt zu verwirklichen. Durch sie lernte er andere Persönlichkeiten kennen, die nach einem einstündigen Gespräch bereit waren, sich von ihm auf diese unkonventionelle Art fotografieren zu lassen. Nur drei sagten ab. »In Berlin ist es einfach, an die Leute heranzukommen«, sagt der Fotograf. »In Hamburg, Paris oder New York wäre das kaum möglich.« Wohl um zu zeigen, dass es in Berlin, zumindest in der Öffentlichkeit, so gut wie keine Hierarchien gibt, sind die Porträtierten nach ihren Namen von A bis Z angeordnet. Das gilt auch für den Begleitband zur Ausstellung, wo die abgebildeten »Köpfe« ihre Erfahrungen mit dem Fotokünstler und seinen Lichtzeichnungen in Worte fassen durften. Nicht alle machten davon Gebrauch. Zum einen sagt bekanntlich ein Bild(nis) mehr als tausend Worte. Zum anderen scheinen die Porträtierten sich vor allem darauf zu konzentrieren, uns wie durch ein Guckloch zu beobachten. Sie uns oder wir sie? Kuck mal, wer da guckt, das ist hier die Frage.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 4/2015


Jaques H. Sehy
Berliner Köpfe – 100 Lichtzeichnungen
noch bis zu 1. März
Haus am Lützowplatz
Lützowplatz 9
10785 Berlin

Dienstag bis Sonntag 11 – 18 Uhr
Eintritt frei

www.hal-berlin.de
www.berliner-koepfe.info
www.jacques-sehy.de

Begleitbuch
Kulturhumus
100 Berliner Köpfe
Lichtzeichnungen von Jacques Sehy
Nicolai Verlag Berlin
Preis: 34,95 Euro

www.nicolai-verlag.de

Andere Arbeiten des Hamburger Künstlers, darunter lichtgezeichnete Akte und herkömmliche Fotografien, gibt es noch bis zum 14. März 2015 in der Ausstellung:

Jacques Sehy
Galerie Tammen & Partner
Hedemannstraße 14
10969 Berlin

Dienstag bis Samstag 12 bis 18 Uhr
Eintritt frei

www.galerie-tammen-partner.de