Zum 90. Geburtstag des Schweizer Künstlers Arnold Odermatt zeigt die Galerie Springer Berlin eine Auswahl seiner Fotografien aus den Jahren 1948 – 2015.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Arnold Odermatt ist heute einer der weltweit gefragtesten Fotografen, obwohl ihm eine Karriere als Künstler nicht in die Wiege gelegt worden war. Als sich der Oberleutnant 1990 nach 42 Dienstjahren bei der Kantonspolizei Nidwalden zur Ruhe setzte, wussten nur wenige, dass er während seines langen Berufslebens tausende Bilder aufgenommen und alle Negative aufbewahrt hat. Sein großes Vorbild war zwar Werner Bischof (1916 – 1954), ein Klassiker der Schwarzweißfotografie, doch sein Bewunderer konnte nicht ahnen, dass er zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch als Klassiker der Fotokunst gefeiert wird. Im Gegensatz zum frühverstorbenen Zürcher Magnum-Fotografen, dem er Anfang der 1950er Jahren persönlich begegnete und der mit Fotoreportagen über an Kriegsfolgen, Armut und Hunger leidenden Menschen rund um den Globus bekannt wurde, hielt der Verkehrspolizist und Polizeifotograf Odermatt seinen unmittelbaren Dienstalltag, kleine Verkehrsunfälle und spektakuläre Karambolagen auf den kurvigen Nidwaldner Straßen sowie seine Kollegen, Kolleginnen und Polizeihunde mit einer zweiäugigen Rolleiflex-Kamera fest. Durch die Art, wie er seine Bilder komponierte und inszenierte, sind sie viel mehr als reine Dokumentarfotografie.
Zaubereien auf dem Heuboden
Am 29. Mai wurde Arnold Odermatt 90. Seinen Geburtstag feierte der Mann, der erst sehr spät als Fotograf entdeckt wurde, in der Galerie Springer Berlin, die ihn seit fast 20 Jahren vertritt. In einem Gespräch, das Dr. Beate Kemfert, Geschäftsführerin der Rüsselsheimer Opelvillen, mit ihm vor dem zahlreich erschienen Publikum führte, erzählte der jugendlich wirkende Jubilar mit Humor und Esprit über seine lebenslange Beschäftigung mit der Fotografie: eine Geschichte, die an vielen Stellen wie ein Märchen klingt. Der in Oberdorf im Kanton Nidwalden, einer schönen Gegend »hinter sieben Bergen« Geborene brachte sich bereits als Zehnjähriger das Fotografieren selbst bei: »Ich sammelte Indianerbildchen, die den Seifenstücken der Firma Steinfels in Zürich beigefügt waren, und als ich damit den Bogen vollgeklebt hatte, bekam ich als Treueprämie einen Fotoapparat. Dazu gab es leider keine Bedienungsanleitung, sodass ich mir alles selbst beibringen musste. Dann brauchte ich noch Geld, um mir einen Film zu kaufen. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, denn wir waren elf Kinder, sechs Buben und fünf Mädel, eine glückliche, aber mäusearme Familie. So verdiente ich mir meinen ersten Film mit Zaubereien auf dem Heuboden, und viele Leute kamen und zahlten fünf Rappen Eintritt, um zu sehen, wie ich mit einem Zauberstab Tinte in Wasser verwandelte und dann Wasser in Tinte.« Weil seine Verwandten die Fotografie als schwarze Magie betrachteten und Arnold sich eine Ausbildung zum Fotografen nicht leisten konnte, erlernte er nach dem Besuch der Primar- und Sekundarschule in Stans das Bäcker- und Konditorhandwerk: »Leider habe ich eine Allergie bekommen und mein ganzer Körper wurde rot wie eine Erdbeere, da habe ich den Beruf aufgeben müssen.« So trat Arnold Odermatt 1948 in den Polizeidienst ein und stieg mit der Zeit zum Vizekommandanten und Chef der Verkehrspolizei im Kanton Nidwalden auf. »Sie wollten mich zuerst nicht nehmen, denn ein Gutachter hat geschrieben, dass ich zu warmherzig bin. Doch dann meinten sie, die Warmherzigkeit ist gar nicht so schlecht, denn da kann er mitfühlen, und das Herz wird automatisch härter mit der Zeit.«
Der Schatz in einem Schrank in Stans
Von Anfang seiner polizeilichen Laufbahn an wollte Arnold Odermatt Verkehrsunfälle fotografieren, was bei den Kollegen und Vorgesetzten zuerst auf wenig Verständnis stieß: »Man muss wissen, dass früher alles gezeichnet worden ist. Der Polizeichef hat es mir damals verboten, Fotos zu machen, denn er war der Meinung, dass man sie manipulieren kann und sie vor Gericht keine Beweiskraft haben. Ich habe sie trotzdem gemacht und dem Rapport beigelegt.« Er setzte sich durch, wurde ein Pionier der Polizeifotografie, entwickelte die Negative in den eigenen vier Wänden, durfte sich dann in der ehemaligen Toilette des Wachpostens in Stans eine Dunkelkammer einrichten und bekam nach dem Umzug in ein neues Gebäude ein eigenes Labor. Er war der erste Polizeifotograf der Schweiz, machte zehntausende Schwarz-Weiß-Aufnahmen von verunglückten Fahrzeugen, aber auch Farbfotos der Nidwaldner Polizisten sowie Familienfotos. Das Meiste davon war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und sollte in Arnold Odermatts Archiv für immer verschwinden. Doch es kam zum Glück anders: Zu Beginn der 1990er Jahre entdeckte Arnolds Sohn Urs, Regisseur und Schriftsteller, bei den Recherchen zu seinem Spielfilm »Wachtmeister Zumbühl« zufällig den väterlichen Fotoschatz in einem Schrank des elterlichen Hauses in Stans. Was Urs dort sah, versetzte ihn ins Staunen, denn er ahnte nicht, dass sein Vater, der Polizist, auch ein begnadeter Künstler war. So brachte er Arnold dazu, sein fotografisches Werk endlich aus der Versenkung zu holen, was der zuerst recht zögernd tat. Sein erster Bildband »Meine Welt« mit über einhundert Fotografien aus den Jahren 1939 – 1969, von Urs Odermatt herausgegeben und 1993 im Berner Benteli Verlag erschienen, wurde prompt mit dem Kodak-Fotobuch-Preis bedacht. Arnold war 73, als seine Arbeiten zum ersten Mal ausgestellt wurden, und zwar im leerstehenden Polizeipräsidium in Frankfurt am Main, parallel zur Internationalen Buchmesse mit dem Schwerpunkt Schweiz. Die Kuratorin seiner damaligen Ausstellung war Beate Kemfert, mit der ihn seitdem eine Freundschaft verbindet. Seit 2003 arbeitet Arnold Odermatt mit dem renommierten Steidl Verlag in Göttingen zusammen, wo seine von Urs Odermatt herausgegebenen Bände »Karambolage«, »Im Dienst« und »In Zivil« publiziert wurden.
Menschenleere Unfallstellen
Als Künstler von Weltrang gilt Arnold Odermatt spätestens seit 2001. Sein Landsmann, der berühmte Ausstellungsmacher Harald Szeemann, sah die Frankfurter Schau und war so beeindruckt, dass er Odermatts Fotografien, 32 an der Zahl, auf der 49. Biennale von Venedig zeigte. Die Kunstwelt war begeistert, die Kritik voller Lob. Das ist nicht überraschend, denn Arnold Odermatts perfekt ausgeleuchteten Aufnahmen kleinerer und größerer Verkehrsunfälle gehen weit über das Dokumentarisch-Autodidaktische hinaus. Mit scharfem Blick und feinem Gespür für Absurdität registriert er die Folgen der ungebremsten Automobilität in einer entlegenen und scheinbar verschlafenen Gegend. Die Technik hält Einzug in diese dörfliche Welt und hinterlässt Spuren. Zerbeulte Autos mit abgerissenen Karosserieteilen, die auf dem Dach liegen, von der Brücke hängen, die Straßen blockieren, im Schnee oder im Vierwaldstädtersee versinken, bilden einen melancholischen Kontrast zur idyllischen Gebirgslandschaft. In dieser coolen Naturkulisse wirken sie wie skurrile Schrottskulpturen. Nach dem Crash sehen alle Fahrzeuge wie Trash aus: »Enten« und »Käfer«, Luxuskarossen, LKW und Busse. Die fast immer menschenleeren Unfallstellen sehen etwas gespenstisch aus. Sie wurden nach dem Abtransport der zu Schaden Gekommenen aufgenommen. Die Abwesenheit der Opfer steigert die Dramatik der »Karambolagen«. Unheimlich und berührend sind diese modernen Vanitas-Stillleben. Um sie aufzunehmen, scheute Arnold Odermatt keine Mühe. Symptomatisch ist die Entstehungsgeschichte des Bildes »Buochs 1965« mit dem im See halbversunkenen VW-Käfer, der inzwischen zu einer Ikone der Fotografie geworden ist: »Ein Kollege von einer anderen Gemeinde kam zu mir und sagte, du musst mir ein Foto machen, also bin ich hingefahren und habe das Bild gesehen, es war traurig, die Wolken waren da, dahinten stand auch eine Trauerweide, das Bild war einfach fantastisch! Ich wusste, ein solches Foto kann ich nur einmal in meinem Leben machen. Ich habe gedacht, wenn ich ins Wasser steige und dann eine Stelle finde, wo ich eine bessere Position habe, kann ich diese Szene festhalten. Da habe ich die Schuhe ausgezogen, die Hose hochgekrempelt, und mein Kollege hat das dem Kommandanten der Hauptstation erzählt. Ich konnte in der Nacht nicht schlafen, so sehr habe ich mich geschämt. Doch der Chef war stolz, dass ich auf diese Weise fotografiere. Er sagte, er kennt Odermatt, das ist ein schlimmer Hund«, schmunzelt Arnold.
Die starren Karren
Die nach den Unfallsorten benannten analogen Schwarz-Weiß-Fotos aus der Werkreihe »Karambolage« sind auch eine Reise in eine fremde Welt: nach Stans, Hergiswil, Buochs, Engelberg, Ennetbürgen, Stansstad, Beckenried, Grafenort, Oberdorf, Ennetmoos, Wolfenschiessen, Dallenwil und Emmetten. Diese Kleinstädte und Dörfer liegen im Kanton Nidwalden, in der Heimat und im Einsatzbereich des Polizeifotografen. Doch die Ortsnamen sind nicht so wichtig, denn Arnold Odermatts Augenmerk gilt der Straße. Sie ist Schlachtfeld und Tatort, eine Bühne, wo sich Menschen mittels ihrer Vehikel bekriegen, verletzen, umbringen. Wenn sie auf der Straße, wie im Leben, keine Spielregeln beachten, knallen ihre Autos zusammen, landen auf dem Dach, fallen in den Graben, verkeilen sich ineinander, brennen aus, werden aus der Bahn geworfen und abgewrackt. Obwohl auf Arnold Odermatts »Karambolagen« keine Menschen sondern »nur« die Folgen ihres Leichtsinns, ihrer Unachtsamkeit, Trunkenheit, Aggressivität und Rücksichtslosigkeit zu sehen sind, erkennen sich die Menschen darin wieder. Sie sind »Produzenten« der Schrottmasse auf der Straße, die wie ein Symbol der zerstörerischen Kraft des Homo Sapiens Automobilis wirkt. Diese Bilder sind zugleich tragisch und komisch. Sie zeigen Maschinen, die der schnellen Fortbewegung dienen, doch in seltsamen Posen verharren, als hätte sie eine unsichtbare Hand in plumpe und unbewegliche Schrottkarren verwandelt: Eine falsche Entscheidung, und aus der Mobilität wird Starre.
Geschniegelt und gestriegelt
2006 brachte der Göttinger Steidl-Verlag Arnold Odermatts Bildband »Im Dienst« heraus, der mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde. Im Gegensatz zu den »Karambolagen«, die zwar wie gestellt wirken, jedoch tatsächlich an den Unfallsorten entstanden, enthält dieser Band inszenierte Farbfotos, größtenteils aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Es waren Werbeaufnahmen, die der Schweizer Polizei ein besseres Image verschaffen sollten. Zu sehen sind darauf Odermatts Kollegen bei der Arbeit im Büro oder im Einsatz: mal in Uniformen und Mützen, mal braungebrannt in Badehose, wenn sie die Rettung Ertrinkender simulieren. Der Fotograf ließ seine Kamera auch nach Dienstschluss nicht aus der Hand. Sein 2010 ebenfalls im Steidl-Verlag veröffentlichter Bildband »In Zivil« enthält über 300 Familien- und Urlaubfotos aus den Jahren 1948 – 1975. Die kleine Welt, die Arnold Odermatt darauf in Schwarz-Weiß und seit 1962 auch in Farbe festhält, wirkt heil, ländlich-sittlich, geordnet und überschaubar. Die Familienmitglieder werfen sich in Schale, sie sind geschniegelt und gestriegelt, die Familienhunde sind frisch gebürstet. »Arnold Odermatts Identifikation mit der Polizeisicht geht so weit, dass auch seine zivilen Arbeiten, die privaten Familienbilder, aussehen, als trüge der Fotograf bei der Aufnahme noch die Uniform. Es sind die Sprödheit der Inszenierung, die Strenge der Bildgestaltung, der kompromisslose Minimalismus, die Arnold Odermatt für ein urbanes Publikum so attraktiv machen«, schreibt Urs Odermatt.
Schönheit und Wandlungsfähigkeit
Dass die Worte des Sohnes mit den Bildern des Vaters übereinstimmen, führt die Galerie Springer Berlin bereits zum siebten Mal vor. Diesmal wird dort, aus Anlass des 90. Geburtstags des Fotokünstlers, eine Auswahl seiner Fotografien aus den Jahren 1948 – 2015 präsentiert. Zu sehen sind über 50 Arbeiten aus allen Werkgruppen, doch man kann auch einen unbekannten Aspekt seines Schaffens entdecken. In seiner neuesten Serie »Ennerberg, Buochs«, aus der neun Arbeiten vorgestellt werden, widmet sich Arnold Odermatt der Landschaft. Seit 1999 fotografiert er zwei Bäume, darunter einen imposanten Kastanienbaum, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten. Es sind Bilder vom Bestehen und Vergehen, die den unveränderlichen Zyklus der Natur, ihre Schönheit und Wandlungsfähigkeit zeigen. »Zehn Jahre, nachdem ich diese Serie begonnen habe, hat ein Tornado dem Kleinbaum den Kopf abgeblasen, da war ich beleidigt. Schade, schade, dachte ich«, erzählt Arnold Odermatt. »Zehn Jahre später ging ich wieder vorbei und habe gesehen, der Baum wächst wieder, so habe ich angefangen, diese Bäume weitere zehn Jahre zu fotografieren. 20 Jahre, das muss der Zeitraum sein, in dem man so etwas aufnimmt. Es hat mir echt gefallen, ich will immer etwas machen, was noch niemand gemacht hat.«
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 12/2015
Arnold Odermatt
90th Birthday – Selected Works
Photographs 1948 – 2015
Noch bis zum 19. Juli 2015
Galerie Springer Berlin
Fasanenstraße 13
10623 Berlin
Öffnungszeiten: Di – Fr 12 – 18 Uhr, Samstag 12 – 15 Uhr
Eintritt frei