Chimären, Hybriden, Stiefeletten aus Pferdehufen mit Revolverabsätzen: Mit ihren eigen- und einzigartigen, tabubrechenden Objekten aus Tierpräparaten fasziniert und polarisiert Iris Schieferstein die Kunstwelt und das Publikum wie keine andere.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Das Atelier von Iris Schieferstein in der brandenburgischen Gemeinde Höhenland erinnert an ein Bestiarium. Auf der Fensterbank liegen Tierschädel und Tierknochen, umgeben von wundersamen Schuhobjekten aus weißen Tauben oder Pferdehufen. In einem Glaskasten reckt sich ein androgynes Geschöpf im Wildkatzenlook mit einem Fischkopf und zwei menschlichen Flossenbeinen, das sozusagen einer umgekehrten Sirene ähnelt. An der Wand lehnt eine Fahne mit der Parole »Alle Macht den Schafen«, unter der eine Kuhbüste auf dem Rücken träumt. Von der Decke hängen zwei weiße Gänse mit Glühbirnen in den Schnäbeln. Unter der Decke trocknet ein Schlangenskelett. Iris Schieferstein ist eine Bildhauerin, die seit Anfang der 1990er Jahre für ihre Skulpturen einen ungewöhnlichen Kunststoff benutzt: Tierpräparate. Sie schafft daraus einerseits dreidimensionale Stillleben, in denen sie die tote Materie in verblüffenden Konstellationen aufleben lässt: als in Formalin eingelegte Chimären und Hybriden, die vor einer entfesselten Gentechnik zu warnen scheinen. Andererseits weisen ihre überlebensgroßen, vor allem weiblichen Figuren aus der Serie »Hubbies« (2007) unverkennbar auf das Animalische im Menschen hin. Sie haben Eselsohren, Pferdeschwänze am Hintern, Hufen und Klauen an den Füssen; ihre Körper sind zum Teil mit Fell bewachsen. Manche sehen wie Janus aus: mit einem menschlichen Gesicht vorne und einen Rinderkopf hinten.
Skulptur aus der Natur
»Wie andere Künstler, die etwas aus dem Müll gezogen haben, um daraus Kunst zu machen, habe ich die überfahrenen Tiere von der Straße aufgelesen und zu Kunst verarbeitet«, sagt die 1966 in der hessischen Kleinstadt Lich geborene Iris Schieferstein. »Dieser Schritt mag skurril anmuten, ist es aber nicht, denn ich habe schon immer tote Tiere fotografiert, auch modelliert, und irgendwann habe ich gesagt: >Warum soll ich sie eigentlich modellieren, wo die Natur das so wunderbar produziert hat?< Hinzu kommt, dass damit, was plattgefahren ist, niemand etwas anfangen kann oder will. Das beachtet auch niemand, dafür würde niemand halten, aussteigen, um es zur Seite zu schaffen. Das ist letztendlich Müll, was auf der Straße verwest oder in der Tierverbrennungsanstalt landet.« Um ihre vorgefundenen organischen Objekte wie tote Hunde, Vögel, Eichhörnchen, Füchse, Maulwürfe, Schlangen und Igel in Skulpturen zu verwandeln und ihnen ein posthumes Leben zu geben, brachte sich Iris, die an den Kunsthochschulen Kassel und Berlin-Weißensee Bildhauerei studierte, autodidaktisch die Tierpräparation bei.
Schieferstein und Frankenstein
Ihre gleichsam faszinierenden und verstörenden, Tabu brechenden »Untiere« und »Fleischskulpturen«, die sie in den 1990ern und Anfang 2000 schuf und in mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen in Berlin, Wien und Budapest zeigte, sorgten für Aufsehen, sodass die Presse auf sie aufmerksam wurde. »Iris Schieferstein, 32, näht in ihrer Berliner Wohnung Ratten ein Lächeln ins Gesicht und lässt Tiefkühlhähnchen Cancan tanzen«, schrieb 1998 das Magazin Stern. »Nun ist der Schafskopf dran.« Und zitierte die Künstlerin: »Ich spiele irgendwie Gott.« Die Bildzeitung berichtete am 26. April 2002: »Skalpelle, Scheren und chirurgische Nadeln sind ihre Werkzeuge. Tote Schweine, Marder, Vögel und Echsen ihr >Rohmaterial<. Iris Schieferstein (36) aus Berlin – bizarre Fleischplastiken (bis 15 000 Euro!) haben sie berühmt gemacht. (…) Inzwischen ähnelt die Wohnung der zweifachen Mutter Frankensteins Labor: Sie näht Flügel an rasierte Hundekörper, bastelt Skulpturen aus Hühnern.« Doch für diese »Berühmtheit« musste die »bizarre« Bildhauerin, von den Medien zu einer Art »Frankenschieferstein« stilisiert, teuer bezahlen. 2002 wurde sie anonym angezeigt, worauf die Berliner Staatsanwaltschaft gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den Artenschutz einleitete.
Kunst führt fast in den Knast
»Das war für mich ein Riesenfiasko, denn ich wurde drei Jahre lang aufs Eis gelegt, durfte nichts ausstellen und nichts verkaufen«, erzählt Iris. »Wegen dieser toten Viecher, die niemanden zu interessieren schienen, wollten sie mich für sechs Jahre in den Knast stecken! Du musst erst mal darauf kommen, dass in der Bundesrepublik nur solche Tiere ausgestopft werden dürfen, die man schießen, halten und züchten darf. Weil ich keinen Jagdschein habe, darf ich keine Krähe, keine Möwe und nichts, was sonst tot umfällt, benutzen: Sie stehen unter absolutem Artenschutz, dürfen auf der Straße verwesen, aber ich darf sie nicht zu Kunst verarbeiten.« Iris Schiefersteins Wohnung und ihr damaliges Atelier in Pankow wurden durchsucht. Eine ihrer Verbündeten im Kampf mit der deutschen Justiz war die Bildzeitung, die ausführlich über die schwierige Situation der Künstlerin und alleinerziehender Mutter berichtete, der man mit diesem Verfahren die Existenzgrundlage entzog. Weil ihr ein Vorsatz nicht nachzuweisen war, stellte die Staatsanwaltschaft schließlich das Verfahren ein, nachdem »alle nicht ordnungsgemäßen Tiere« unter Aufsicht der Ordnungshüter, darunter »einer Dame vom Naturschutzamt«, ausgetauscht werden mussten.
Mensch, kein Problem
»Ich musste auch alle Gläser aufmachen, sie haben meinen ganzen Fundus auseinander genommen: die Igel, die Eichhörnchen, die Maulwürfe, die von langer Hand eingesammelten und weichgemachten Frösche vom Wannsee. Kein Problem dagegen sind Frösche, die hier als Froschschenkel landen und aus Malaysia oder Indonesien kommen, obwohl ihre Zucht die Malariaquote nach oben treibt. Das ist alles sehr bigott!«, ärgert sich Iris. »Das war ein Desaster, denn alles, was nicht Hund, Katze, Ratte oder Zuchttier war, wurde eingetütet.« In ihrem Atelier befand sich auch ein Glas mit einem menschlichen Embryo, den ihr jemand, aus welchen Gründen auch immer, vor die Tür gestellt hatte. »Das Ding stand bei mir schon seit einer Ewigkeit und ich wusste nicht, was ich damit machen sollte.« Nachdem die Vertreter der Justiz den Chefpathologen der Berliner Polizei angerufen haben, erfuhr sie, dass er gegen die künstlerische Verarbeitung eines menschlichen Embryos nichts einzuwenden habe. »Mensch, kein Problem«, erklärte er. »Dass hier eine Kafka-Nummer abläuft, ist mir spätestens jetzt klar«, sagte Iris. »Da stimmt doch etwas nicht an unserem System in Deutschland. Sie wollen mich für sechs Jahre ins Gefängnis stecken wegen der toten Tiere, und ein menschlicher Embryo geht Sie nichts an?« So hat sie ihn, jedoch viel später, 2010, in die Installation »The Polish Heart« integriert, ohne, wie im Fall der tierischen Kunstwerke, eine schriftliche Genehmigung des Naturschutzamts beantragen zu müssen.
Göttliche Sandalen
Trotz dieser Erfahrungen möchte Iris Schieferstein auf ihre Kunst nicht verzichten, nur dass sie jetzt ausschließlich »erlaubte« Tiere benutzt, das heißt solche, die ordnungsgemäß erschossen, geschlachtet oder als Zuchttiere auf eine von den Behörden akzeptierte Art gestorben sind. 2005 hat sie angefangen, Aufsehen erregende Schuhobjekte zu fertigen, deren Bilder um die Welt gingen und empörte Tierschützer auf den Plan riefen, die sie mit E-Mails bombardierten und ihr nicht selten mit dem Tod drohten. Es sind Stiefeletten aus Pferdehufen und Pumps aus Schlangenleder mit Revolverabsätzen, neuerlich auch Ratten-Flipflops. Geschweige denn die bereits erwähnten weißen Täubchen auf weißen Plateausohlen: die passenden Sandalen für einen weiblichen Mercurius, für eine neue geflügelte Göttin Mercuria. Doch dieses ausgefallene Schuhwerk, das aus lauter Unikaten besteht und von den Modegiganten bisher straflos kopiert wird, ist nur ein Nebenprodukt der schöpferischen Schiefersteinischen Fantasie.
Franz, Pina und Kalle
In letzter Zeit arbeitet die vor nichts schreckende Bildhauerin an einer großen Skulptur, zu der sie Franz Schuberts kleines Lied »Der Tod und das Mädchen« (1817), die Vertonung des aus nur zwei Strophen mit je vier Zeilen bestehenden Gedichts von Matthias Claudius, inspirierte. Parallel zu dieser Plastik, in der das im Atelier trocknende Schlangenskelett den »Tod« verkörpern wird, entsteht eine lebensbejahende Fotoserie. Wichtige Rollen spielen darin zwei ausgemusterte Rennpferde, die Iris vor dem Abdecker gerettet hat und die sie dreimal die Woche nacheinander reitet: die achtjährige Pina und der vierjährige Calimero, genannt Kalle. »Sie haben keine Angst vor Blitzlicht und Stress, denn sie sind das von der Rennbahn gewohnt. Sie lassen alles mit sich machen. Das ist toll!«
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Zuerst erschienen im strassen|feger 9 (April) 2012
IRIS SCHIEFERSTEIN
Solo Exhibition
16.11. – 26.11.2016
The Ballery
Nollendorfstraße 11-12
10777 Berlin
Vernissage am 16. November 2016 ab 18 Uhr