Als »Art Brut« wird eine unverbildete und »rohe« Kunst bezeichnet, deren Schöpfer Außenseiter, Patienten psychiatrischer Kliniken oder Häftlinge sind, die unabhängig von den etablierten Kunstströmungen und Kunstzentren wirken. Der Erfinder des Begriffs »Art Brut« war 1945 Jean Dubuffet, französischer Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Philosoph, Komponist und Kunsttheoretiker, einer der originellsten und radikalsten Künstler des 20. Jahrhunderts.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Jean Dubuffet war ein Multitalent und Rebell, der sich programmatisch gegen den offiziellen Kunstbetrieb wandte und nach authentischen, unverfälschten Formen des künstlerischen Ausdrucks suchte. Er fand sie in den Werken der ungebildeten, am Rande der Gesellschaft oder in ihren geschlossenen Einrichtungen lebenden Autodidakten. Ihre Kunst regte Dubuffet an, denn sie ließen ihrer Phantasie freien Lauf, schufen außergewöhnliche figurative Systeme, malten sich ihre Visionen, Sehnsüchte, Träume und Wahnvorstellungen unverfroren von der Seele. Weil ihnen keine kunsttypischen Materialien zur Verfügung standen, benutzten sie alte Pappkartons, billiges Schreibpapier, Toilettenpapier, Aktenpapiere, Laken und Kleidungsstücke als Bildträger. Sie entfalteten ihre Kreativität auch unter den miesesten Bedingungen. Ihre Kunst war für Dubuffet überzeugend und wegweisend, denn er sah darin ein spontanes und direktes Abbild dessen, was sich im Inneren eines noch so gehandicapten Individuums abspielt und nach außen dringen muss.
Missverstanden, verkannt, gefeiert
Jean Dubuffet wurde am 31. Juli 1901 in Le Havre als Sohn eines Weingroßhändlers geboren. Nach dem Abitur ging er nach Paris, wo er an der Academie Julian Malerei studierte. Bereits nach einem halben Jahr schmiss er das Studium hin und wandte sich Literatur, Ethnologie, Musik und Sprachen zu. Erst 1942, nachdem er seine Weinhandlung verpachtete, was ihm finanzielle Unabhängigkeit sicherte, konnte er sich als freier Künstler behaupten. Indem er stets mit Farben und Materialien experimentierte, erweiterte er sein künstlerisches Repertoire. Für seine Collagen verwendete er alltägliche, jedoch für die damalige Kunst ungewöhnliche Materialien: Sand, Teer, Kordel, Zement, Kieselsteine, Haare, Dreck, Brotkrümel, Nähfäden oder Schmetterlingsflügel. Während sich Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre die abstrakte Kunst durchsetzte, trat Dubuffet mit scheinbar naiven und primitiven, als hässlich empfundenen Menschenbildern in Erscheinung, die den Geschmack der Kunstwelt verletzten und für Aufsehen sorgten. Diese unbeholfenen zeichenhaften »Schmierereien«, die häufig die Graffitikunst vorwegnahmen, waren hinsichtlich der Technik und figürlicher Motivwahl ein doppelter Verstoß gegen die immer mehr an Bedeutung und Ansehen gewinnende abstrakte Kunst. Doch Dubuffet ließ sich nicht beirren und behielt recht: Der am Anfang seiner Laufbahn Missverstandene und Verkannte wurde seit dem Ende der 1950er Jahre international gefeiert; er nahm unter anderem der documenta 2, 3 und 4 in Kassel teil. 1984 vertrat er Frankreich auf der Biennale von Venedig. Am 12. Mai 1985 nahm sich Jean Dubuffet in Paris das Leben.
Schweizer Wahnsinnskunst
1945 wurde Jean Dubuffet von der Schweizerischen Verkehrszentrale zu einer Reise in die Schweiz eingeladen. Er besuchte damals die Psychiatrische Klinik Waldau bei Bern und war von den Werken schizophrener Künstlern, die der Psychiater Walter Morgenthaler (1882 – 1965) gesammelt hatte, tief beeindruckt. Er erhielt Einblick in ein gigantisches Oeuvre, in der Abgeschiedenheit der geschlossenen Psychiatrie entstanden und von Menschen geschaffen, für die Kunst ein existenzielles Bedürfnis war. Zu den Künstlern, von denen sich Dubuffet besonders angesprochen fühlte, gehörten Aloïse (1886 – 1964), Adolf Wölfli (1864 -1930) und Heinrich Anton Müller (1869 – 1930). Aloïse, Tochter des Bauern und Postbeamten François Corbaz aus Lausanne, war von 1911 bis 1914 Gouvernante des Kapelans Wilhelms II., und verliebte sich unsterblich in den Kaiser. Als sie in die Schweiz zurückkehrte, wurde sie 1918 in die Irrenanstalt Céry bei Lausanne eingewiesen. Von 1920 bis zu ihrem Tod lebte sie in der Anstalt La Rosière in Gimel (Kanton Waadt). Dem religiösen und amourösen Wahn verfallen, schrieb, zeichnete und malte sie ihre Träume und Sehnsüchte nach Glück auf meterlangem, zusammengenähtem Packpapier. Madonnen und berühmte Liebespaare waren ihre bevorzugten Motive. Der an Schizophrenie erkrankte Adolf Wölffi, ehemaliger Bauer und Handlanger, lebte von 1895 bis zu seinem Tod, also 35 Jahre lang, in der Nervenheilanstalt Waldau, in einer sieben Quadratmeter kleinen Kammer, wo er ein monumentales und multimediales Werk fertigte: 1460 Zeichnungen, 1560 Collagen und 25 000 Seiten, zu Heften gebunden, mit Erzählungen, Gedichten und Musikkompositionen. Der unter Wahnvorstellungen und Megalomanie leidende Weinbauer und Erfinder Heinrich Anton Müller wurde 1906 in die Psychiatrische Klinik Münsingen bei Bern eingewiesen, wo er 24 Jahre verbrachte und wo er starb. Er malte seltsame Figuren, darunter einen Fliegenmenschen mit wuscheligen Haaren und spindeldürren langen Beinchen, der mit einer Riesenschlange Gespräche führte. Aus Lumpen, Karton, Erde, Steinen und seinen Exkrementen baute er kinetische Skulpturen, die er in Gang setzte, sobald sich ihm jemand näherte. Sie wurden nach seinem Tod vom Klinikpersonal zerstört.
Bildnerei der Geisteskranken
1950 reiste Dubuffet nach Heidelberg. Er wollte dort die bis heute bestehende Sammlung des Psychiaters Hans Prinzhorn (1886-1933) besichtigen, dessen 1922 veröffentlichtes Buch »Bildnerei der Geisterkranken« einen großen Einfluss auf die Kunst der Moderne hatte. Hans Prinzhorn, Arzt und Kunsthistoriker, der vor allem die Entstehung der Kreativität erforschte, legte für die Psychiatrische Klinik der Universität Heidelberg bereits in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche, über 5 000 Werke zählende Sammlung an, die von 435 überwiegend schizophrenen Patienten stammten. Im Dritten Reich war diese Kunst verpönt: 1937 hingen in der berüchtigten Ausstellung »Entartete Kunst« etliche Werke aus der Sammlung Prinzhorn neben den Künstlern der Moderne, um deren angeblich krankes Wesen zu dokumentieren. Im Rahmen des nationalsozialistischen »Euthanasie-Programms«, an dem sich die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg aktiv beteiligte, wurden 19 Künstler der Sammlung Prinzhorn ermordet. Seit einigen Jahren gibt es Bestrebungen, in Berlin-Charlottenburg ein »Haus für Außenseiterkunst« aufzubauen, dessen Grundstock die Sammlung Prinzhorn sein soll.
Ein Künstler und Sammler
Die »rohe« Kunst, der Jean Dubuffet zuerst in der Schweiz und dann in Heidelberg begegnete, wurde zu seiner wichtigsten Inspirationsquelle. 1945 schrieb er einen Brief an den Schweizer Psychiater Charles Ladame, wo er erklärte, was er unter »Art Brut« verstand: »Zeichnungen, Gemälde, Kunstwerke aller Art, die von Unbekannten, von Besessenen geschaffen wurden, die durch spontane Impulse entstanden, die von Phantasie und Tollheit beseelt sind und sich nicht in den alten Gleisen der katalogisierten Kunst bewegen.« Er selbst malte Köpfe mit großen Augen, breiten Mündern und bizarr verformten Gesichtszügen sowie chaotische Landschaften, Großstadtszenen und Stillleben. Die Oberfläche seiner Reliefs und Skulpturen ist aufgeraut und porös, erdig und körnig, sie erinnert an verwitterte Steine. Um die Plastizität seiner Werke hervorzuheben, ritzte er Linien in den Malgrund. Indem er mit gewöhnlichen und damals kunstfremden Materialien experimentierte, versuchte er, seinen autodidaktischen Vorbildern näher zu kommen, und in ungeschönter Form seinen Phantasien, Träumen und Emotionen einen authentischen Ausdruck zu verleihen. Beeindruckend ist auch sein bildhauerisches Werk: Seit Anfang der 1960er Jahre werden seine raumgreifenden und oft begehbaren Polyester-Skulpturen immer voluminöser. Sie gehörten zur Serie, für die er als Titel das Wort »Hourloupe« erfand. Er war auch ein bedeutender Sammler und Förderer der Kunst von Geisteskranken, Außenseitern und Sonderlingen. Seine Collection de l’Art Brut mit viertausend Werken von 133 Künstlern schenkte er 1971 der Stadt Lausanne, die sie seit 1976 im Museum Château de Beaulieu präsentiert.
»Art brut préferé aux arts culturels« hieß die Ausstellung, in der Jean Dubuffet 1949 in einer Pariser Galerie 200 Werke von 63 Künstlern zeigte. Es war die erste große Schau der »Art Brut« weltweit, die, wie der Titel verkündete, auf ihre »Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst« hinweisen sollte. Im Ausstellungskatalog schrieb Dubuffet: »Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken.«
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 11/2014