Am 6. Juli 2013 verstarb Józef Chełmowski, ein vielseitig begabter, offener und neugieriger Mensch: Er zeichnete, schnitzte, malte auf Glas, Leinwand, Holz und Spanplatte. Seine Farben mischte er sich selbst aus Eigelb, Quark, Milch, Blätter und Blüten. Er war Philosoph, Erfinder, Astronom und Theologe. Er dachte viel über die Welt nach, verfolgte und kommentierte in seinen Werken das Zeitgeschehen. Seine Fantasie und Experimentierfreude kannten keine inhaltlichen und formalen Grenzen.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Brusy, eine polnische Kleinstadt in der Südkaschubei am Rande der Tucheler Heide. Dort, im dörflichen Ortsteil Jaglie, liegt das Gehöft von Jadwiga und Józef Chełmowski: ein wahres Juwel. Schon an der Einfahrt grüßt ein prächtiger Bildstock, mit religiösen und volkstümlichen Motiven reich verziert. Am Zaun hat sich ein Posaunenengel postiert. In seiner Nähe dreht sich ein großes Rad, an dem kleine Metallbehälter hängen. Es ist die »Maschine zum Einfangen der Elemente«. Im Hof verharrt der heilige Ambrosius, Schutzpatron der Imker, als mannshoher geschnitzter Bienenstock, mit den Jahren fast vollständig mit Moos bewachsen, mit grüner Patina. »So ist nun mal die Natur«, meinte Józef Chełmowski, der selbst auch Imker war. »Kunst muss mit der Natur im Einklang leben.« Dass seine Wind und Wetter ausgesetzten Skulpturen irgendwann morsch werden und zerfallen, fand er völlig normal.
Pulsierendes Universum
In Józef Chełmowskis Zaubergarten stehen unzählige in Holz geschnitzte Engel und Teufel, Bären und Bergleute, Heilige und Räuber, Bäuerinnen und Bauern in kaschubischen Trachten. Sie stehen im Schatten der Obstbäume. Durch Äste und Blätter schimmert Sonne, die springende Lichtpunkte auf Nasen und Augen der Skulpturen wirft. Im Sommer summen Bienen, die in den Bienenstöcken wohnen; das Storchnest auf dem Telefonmast ist auch voller Leben. Den Garten, das Haus, die Scheune, also sein ganzes Ambiente, hat der lange Zeit als Sonderling, Spinner und Träumer belächelte Autodidakt in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Józef, ein vielseitig begabter, offener und neugieriger Mensch, zeichnete, schnitzte, malte auf Glas, Leinwand, Holz und Spanplatte. Seine Farben mischte er sich selbst aus Eigelb, Quark, Milch, Blätter und Blüten. Er war Philosoph, Erfinder, Astronom und Theologe. Er dachte viel über die Welt nach, verfolgte und kommentierte in seinen Werken das Zeitgeschehen. Zugleich versuchte er, sich dem ewigen Geheimnis der Existenz zu nähern: »Der Schöpfer der Erde ist das Universum, welches vom ersten Augenblick an mit Leben ohne Anfang und ohne Ende pulsiert und immer lebendig ist. Das ist die Harmonie des Seins auf der Erde.«
Poeten und Kometen
Persönlichkeiten und Probleme, mit denen Józef Chełmowski sich beschäftigte, stellte er in polychromen Skulpturen, auf Öl- und Hinterglasbildern dar. Er schnitzte Erfinder (Alfred Nobel) und Poeten (Heinrich Heine und Wolfgang von Goethe), malte Kometen (Hyakutake), den Terrorangriff auf das Word Trade Center, den Fall der Berliner Mauer, Szenen aus dem Alltag, Heilige, Gottvater, Madonnen, Christusse und immer wieder Engel. Seine Werke versah er häufig mit Kommentaren in verschiedenen Sprachen: Kaschubisch, Polnisch, Deutsch, Lateinisch, Englisch, Französisch und Kurdisch. Mit seinem in Malmö lebenden kurdischen Schwiegersohn hatte Józef ein polnisch-kurdisches Wörterbuch verfasst. Auf Leinwand und Papier hielt er das Dorfleben fest. Er malte Bildstöcke und alte Häuser seiner Heimat, um sie nach dem bevorstehenden Verfall und Abriss vor dem Vergessen zu retten. Er sammelte Zeugnisse der deutsch-polnischen Vergangenheit der Kaschubei. Er schrieb und illustrierte Traktate wie »Das Geheimnis der Welt der Welten«, »Das Buch der Engel«, »Die Apokalypse«, »Adam und Eva«, »Religionen« und »Universum«, die seine Überlegungen zu ethischen, philosophischen und theologischen Fragen beinhalten. Das waren für ihn Bereiche, »die man nicht ergründen und nicht erklären kann. Sie müssen also auch für die nächsten Generationen ein Geheimnis bleiben, denn es irrt der Mensch, solang er denkt. Nur die Natur hat immer Recht.«
Drachenflieger und Cherubim
Der am 26. Februar 1934 im Haus Nr. 17 in Brusy-Jaglie geborene Józef Chełmowski baute Spielzeuge und Musikinstrumente. Er hatte einen Architekturwettbewerb gewonnen, einen Drachenflieger und ein Fahrrad mit drei Autoreifen konstruiert, er arbeitete an einem Perpetuum mobile. Er versuchte, immer etwas Neues und Interessantes zu machen, um für sich selbst und die anderen nicht langweilig zu werden. Er schnitzte und malte schon als Kind. In seiner Familie hatte das vor ihn niemand getan. Als Erwachsener schlug er sich mit verschiedenen Jobs durch, da es ihm nicht gegönnt war, eine Schule zu Ende zu besuchen und einen Beruf zu erlernen. Er war Land- und Straßenarbeiter, Eisenbahner, Kinokartenverkäufer, er arbeitete als Interviewer in einem Meinungsforschungsinstitut. Parallel dazu bewirtschaftete er seinen kleinen Bauernhof, wobei sich schon immer seine Frau, Pani Jadwiga, mit der er seit 1960 verheiratet war, um die praktischen Dinge des Lebens kümmerte. Als Künstler ließ Józef sich nicht einschüchtern, obwohl einige seiner Skulpturen, Lech Wałęsa und der Gewerkschaft Solidarność gewidmet, als Bedrohung der öffentlichen Ordnung eingestuft und nach der Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 von den Militärbehörden beschlagnahmt und … verhaftet wurden. Lange Zeit ein Geheimtipp unter Ethnologen und Sammlern, wurde er seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend als einer der bekanntesten polnischen Volkskünstlern gefeiert, mit Preisen, Auszeichnungen und Ausstellungen bedacht, interviewt, beschrieben und gefilmt. Wozu auch seine einzigartigen Engelscharen, vor allem die Cherubim und die Seraphim sowie das 55 Meter lange und ein Meter breite Ölgemälde »Die Apokalypse nach Józef Chełmowski«, 1994 zum ersten Mal im nordrhein-westfälischen Stadtlohn gezeigt, beigetragen haben. An diesem monumentalen Werk hat Józef mehrere Jahre gearbeitet: Es beinhaltet seine ganze Weltanschauung, seine ganze Philosophie und ist ein Beispiel für seine unglaubliche Ausdruckskraft. Aus der neueren Kunstgeschichte ist mir nur ein einziges Beispiel eines solchen Gemäldes bekannt: Es ist die 1978 entstandene, 60 Meter lange »Apokalypse« des italienischen Malers Enrico Baj, eines akademischen Künstlers wohlgemerkt. Zu seiner »Apokalypse« hat Chełmowski einen langen Text geschrieben. Darin lesen wir unter anderem: »Am Ende existiert ein Neuer Himmel und eine Neue Erde. Gott wird unter den Menschen sein und wird jede Träne trocknen … und es entsteht eine Hauptstadt mit zwölf Toren und Türmen…« Mit den Augen des Künstlers betrachtet sind das die Türme der Kirchen von Brusy und Danzig, das neue Jerusalem.
Mann oder Frau?
Józefs Engel haben strenge Gesichtszüge und einen ernsten Blick, denn »sie warnen die Menschheit vor dem Anstoß, der die niederträchtigste Sünde ist, und unsere Welt zum Untergang bringt.« Es ist eine veränderte Welt, in der die Traditionen verwischen, die Gleichgültigkeit den Geist in Besitzt nimmt, überall Chaos, Egoismus, Hass und Verzweiflung herrschen. Eine Welt, »in der tödliche Langeweile die einen auffrisst, Armut die anderen dezimiert und alle unglücklich sind.« Józef Chełmowski war zwar ein gläubiger Mensch, doch Gott, wie er ihn verstand, hatte viele Namen: Hinduismus, Orthodoxie, Buddhismus, Katholizismus, Judaismus, Islam und Protestantismus. Damit nicht genug: In einer Frauenbüste mit auffallend männlichen Gesichtszügen stellte Józef eine Frage, auf die er keine Antwort in der Bibel fand:
»Allmächtiger Herr.
Allwissender Herr.
Allgegenwärtiger Herr.
Vollkommener Herr.
Herr, nur Du weißt,
wie Du aussiehst
Du hast den Menschen
zu Deinem Ebenbild erschaffen.
Wir wissen nicht:
Frau oder Mann?«
(Dieses Gedicht und alle anderen Zitate von Józef Chełmowski aus dem Polnischen ins Deutsche von Urszula Usakowska-Wolff übersetzt)
Siamesische Engel und Teufelsgeigen
So war Józef Chełmowski: ein Außenseiter und Zweifler, der seine dörfliche Umgebung häufig verblüffte und noch häufiger entsetzte. Ein freier Mensch, der sich nicht scheute, gegen den Strich zu denken und zu handeln. Er hatte keine Angst vor lokalen Politikern und Pfarrern, die ihn lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollten oder misstrauisch beäugten. Er sprach und schrieb auf Kaschubisch, als es öffentlich nicht benutzt werden durfte oder sollte. Das war weder Provokation noch Demonstration, sondern konsequente Haltung. Auch künstlerisch ließ sich Józef nicht einzwängen. Seine Fantasie und Experimentierfreude kannten keine inhaltlichen und formalen Grenzen. Er schuf siamesische Engel und Paare, deren Köpfe aus einem Baumstamm wachsen, Skulpturen in Form von Flügelaltären, Skulpturen mit eingebauten beweglichen Schubladen, kinetische Skulpturen, Krippen, Kissenbilder, dreidimensionale Hinterglasbilder, Bild- und Bienenstöcke, Teufelsgeigen, fahrende und fliegende Objekte. Der zuerst nur von Fachleuten, Freunden und Sammlern besuchte Ort am Rande von Brusy, wo sich Józef seine Welt geschnitzt und gemalt hat, zog immer mehr Menschen an. Reisegruppen aus Polen, Deutschland und anderen europäischen Ländern steuerten gezielt das Haus Nr. 17 in Jaglie an. Um ein einzigartiges Museum zu sehen, draußen und drinnen. Kunst und Leben im Freien und unter Dach.
Die Harmonie des Seins
Mein Mann und ich lernten Józef Chełmowski Anfang Mai 1993 in Köln kennen, als er im Rahmen des »Kaschubischen Tages« seine Skulpturen in der damaligen polnischen Botschaft zeigte. Das war der Anfang einer langen Freundschaft. Wir waren von Józefs Bescheidenheit, Ausstrahlung und Kreativität begeistert. Es ist uns gelungen, Ausstellungen seiner vielseitigen Arbeiten in mehreren westdeutschen Städten wie Stadtlohn (1994, 1997), Herbstein (1994), Bad Nenndorf (1996), Siegburg (1997) und 2005 in Bad Oeynhausen zu organisieren. Józef und seine Kunst sind seit über 20 Jahren Teil unseres Lebens. Ob wir in Ostwestfalen oder wie jetzt in Berlin wohnen, sind wir von seinen Werken umgeben, denn wir haben eine umfangreiche Sammlung seiner Skulpturen, Bilder und Texte, vielleicht die größte außerhalb Polens. Was also bleibt, ist Kunst und Erinnerung. Nachdem Józef Chełmowski am Vormittag des 6. Juli 2013 einen Schwächeanfall in seinem Garten erlitten hat, starb er kurz darauf im Krankenhaus. Doch seine faszinierende Kunstwelt ist weiterhin zugänglich. Dafür sorgt Pani Jadwiga: Sie führt alle, die es sehen wollen, durch das Lebenswerk ihres Mannes.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
VG Wort, VG Bild+Kunst, Bonn
Józef Chełmowskis Privatmuseum im
Dom (Haus) Nr. 17
PL 89-632 Brusy-Jaglie
kann täglich ohne Anmeldung besichtig werden.
Die mit 500 Exponaten größte Sammlung der Kunstwerke von Józef Chełmowski besitzt das Muzeum Zachodniokaszubskie w Bytowie (Westkaschubisches Museum Bytów).
Mehr zu Józef Chełmowski:
www.kunstdunst.de/chelmowski.htm
Das Buch der Engel von Józef Chełmowski (Video, Polnisch )