Der polnische Dramaturg, Bühnenbildner und Regisseur Józef Szajna (1922-2008) hielt als KZ-Überlebender in seiner Kunst die Erinnerung an die Gräueltaten des Nationalsozialismus und Totalitarismus wach. Doch auch die Gegenwart und Zukunft der Welt betrachtete er mit großer Sorge – einer Welt, in der rücksichtslose Populisten Triumphe feiern, weil sie genau wissen, was man den gleichgeschalteten Massen auftischen muss: einen gemeinsamen Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Am 31. Januar 2007 besuchte Józef Szajna Berlin, wo in dem alten Gebäude der polnischen Botschaft Unter den Linden seine Ausstellung »Hört das noch jemand? Zur Condition Humaine nach Auschwitz« gezeigt wurde. Vierhundert Leute kamen, um den Künstler und seine von den Erfahrungen des Todes gezeichnete Kunst zu sehen. Das Publikum hörte ihm gebannt zu, als er auf Deutsch, das er im KZ Auschwitz, »seiner ersten Universität«, gelernt hat, erklärte: »Mit meiner Kunst zahle ich für mein Leben und meine Freiheit. Während meiner Jugend, die ich in den Lagern Auschwitz und Buchenwald verbrachte, war der Tod allgegenwärtig. Man lebte mit dem Tod, man ging mit dem Tod schlafen, man wusste, dass man vernichtet wird. So etwas bleibt nicht ohne Spuren, fließt in meine Kunst ein.« Er schämte sich lange Zeit dafür, die Hölle überlebt zu haben. Diese Hölle war auch das Hauptthema seiner unter die Haut gehenden Kunst: Verkrüppelte Mannequins, aus deren Köpfen und Mündern Schläuche herausragen, Stapel von Schuhen und anderen Habseligkeiten, die den Kindern, Erwachsenen und Alten vor dem Tod in den Gaskammern abgenommen wurden – der seiner Identität beraubte Mensch als Rohstofflieferant im industrialisierten und bürokratisch perfektionierten Prozess des Mordens.
Der Mensch wird eine Nummer
Der Zweite Weltkrieg beendete das unbekümmerte Leben des künstlerisch begabten und sportbegeisterten Jungen, der am 13. März 1922 in der südostpolnischen Stadt Rzeszów zur Welt kam und in einer behüteten bürgerlichen Familie aufwuchs. Was ihm bevorstand, war ein fünf Jahre anhaltender Albtraum. Mit siebzehn wurde Józef Szajna Untergrundkämpfer, betrieb Sabotage gegen die deutschen Besatzer, flüchtete vor der Gestapo nach Ungarn und wurde auf dem Weg dorthin 1940 in der Slowakei verhaftet. Nach Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen »stand ich schließlich im Angesicht der Welt, die den Namen trug: >Arbeit macht frei<. Es war das Konzentrationslager Auschwitz. Hier wurde alles metaphysisch: Gewalt und Gräueltaten, Heldentum und Aufopferung. Wir fügen uns zu einem Archipel der menschlich-unmenschlichen Psychen zusammen, wenn der Mensch eine Nummer wird, eine nichts bedeutende Zahl 18729«, schrieb er in seinen Erinnerungen. Nach einem Fluchtversuch im Sommer 1943 wurde Józef Szajna zum Tode verurteilt und in einem fensterlosen Stehbunker (90 x 90 cm) gefangen gehalten. Das Todesurteil wurde jedoch nicht vollstreckt, und im Januar 1944 überstellte ihn die SS nach Buchenwald, ins Außenlager Schönebeck, wo er in Junkers Flugzeug- und Motorenwerken Zwangsarbeit leisten musste. Als die Häftlinge am 11. April 1945 auf den Todesmarsch geschickt wurden, gelang ihm die Flucht.
Verwirklichte Visionen
Bis 1947 lebte Józef Szajna in einem Lager für Displaced Persons in Haren an der Ems in der britischen Zone, wo er Abitur machte. Dann kehrte er nach Polen zurück, wo er an seiner »zweiten Universität«, der Akademie der Schönen Künste in Krakau, Grafik und Bühnenbild studierte. Seine Visionen vom Gesamtkunstwerk konnte er auf der Bühne verwirklichen. Seit Mitte der 1950er Jahre sorgte er, zuerst als Bühnenbildner, dann bis 1966 als Direktor des Teatr Ludowy (Volkstheater) in Nowa Huta bei Krakau, einer aus dem Boden gestampften sozialistischen Stadt, mit seinen theatralischen und skulpturalen Inszenierungen für großes Aufsehen. Anfang der 1970er Jahre nahm er eine Professur an der Akademie der Schönen Künste in Warschau an. Zum Intendanten des Teatr Klasyczny (Klassischen Theaters) berufen, änderte er dessen Namen in Teatr Studio, baute das Schauspielhaus im einstigen Josef-Stalin-Kulturpalast zu einem offenem Theater um, wo die Grenzen zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum verschwanden, wofür er von der polnischen Kritik zum Teil heftig angegriffen wurde. Er war Dramaturg, Bühnenbildner und Regisseur in einer Person. Seine multimedialen Aufführungen, unter anderem »Replika I«, »Replika II«, »Replika III«, »Paniktheater«, »Cervantes« und »Dante«, zeigten eine kurz vor dem Abgrund stehende oder vom Untergang nur einen Schritt entfernte mechanisierte Welt. Obwohl er auch in der Volksrepublik Polen hohes Ansehen genoss, bewahrte er stets eine unbeugsame Haltung. So verzichtete er 1982 aus Protest gegen die Ausrufung des Kriegsrechts auf seine Professur und Intendantur.
Erschütterndes Environment
Spätestens seit Anfang der 1970er Jahre war Józef Szajna ein Kultregisseur und ein international anerkannter Künstler. 1970 zeigte er auf der Biennale von Venedig sein monumentales und erschütterndes Environment »Reminiszenzen«, den im KZ Auschwitz ermordeten Professoren der Krakauer Universität und Künstlern gewidmet, unter denen sich Ludwik Puget befand. Puget stammte aus einer französischen Familie, die Anfang des 18. Jahrhunderts in der polnischen Adelsrepublik ein neues Zuhause fand. Der am 21. Juni 1877 in Krakau geborene Baron Ludwik Puget studierte Skulptur und Kunstgeschichte zuerst in seiner Heimatstadt, danach in Paris. Seit 1907 arbeite er als Satiriker, Puppenbauer und Schauspieler mit dem legendären Krakauer Kabarett Zielony Balonik (Grüner Luftballon) zusammen. Er war auch Kunstkritiker und Publizist. Von 1918 bis 1925 lebte er in Frankreich, wo er zum Kavalier der Ehrenlegion geschlagen wurde. Nach der Rückkehr nach Polen war er zuerst Kustos des Stadtmuseums in Posen, dann bis 1939 Bühnenbildner des Theaters Cricot in Krakau. Als Bildhauer, Maler und Zeichner war er vor allem für seine Büsten und Porträts von Künstlern und Schriftstellern, aber auch für seine Tierskulpturen berühmt. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Kellner in einem Krakauer Künstlerrestaurant – und war im Untergrund tätig. Deshalb wurde er verhaftet, ins KZ Auschwitz verschleppt und dort am 27. Mai 1942 erschossen. Sein letztes in Auschwitz gemaltes Bild war das Porträt eines Hundes.
Silhouetten und Schatten
»Reminiszenzen«, die das Sammlerehepaar Johnson aus Essen auf der Biennale von Venedig 1970 erwarb, gehören heute zur Sammlung der Gedenkstätte Buchenwald. Ludwik Pugets Häftlingsfoto, das Józef Szajna nach dem Krieg im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau fand, steht überlebensgroß im Zentrum der »Reminiszenzen«. Die klugen und ruhigen Augen des Adeligen, Künstlers und Kosmopoliten Puget blicken unerschrocken und direkt an mehreren Stellen der begehbaren, 100 Quadratmeter großen Installation: Die gestreifte abgetragene Häftlingsuniform tut der Würde, die sein edles Gesicht ausstrahlt, keinen Abbruch. Er bleibt auch in dieser schrecklichen und menschenverachtenden Lage ein aufrechter Mensch. »Fatalerweise behalten wir aus der Zeitgeschichte nur die größten Mörder in Erinnerung – Hitler vergisst man nicht. Wer aber kennt die Opfer?«, sagte 2002 der Autor der »Reminiszenzen« im Gespräch mit Ingrid Scheurmann, der Mitherausgeberin des Buchs »Józef Szajna – Kunst und Theater«. Der in Auschwitz ermordete Ludwik Puget ist für den Auschwitz-Überlebenden Józef Szajna »so etwas wie ein Mahnmal geworden. Hier wird der Mensch des 20. Jahrhunderts porträtiert. Für mich ist das der Häftling, das Opfer schlechthin, was übrigens so viel heißt wie: die Nummer, der uniformierte Mensch.« Die Fortsetzung der »Reminiszenzen« waren »Silhouetten und Schatten« – eine Hommage an Ludwik Puget und andere KZ-Häftlinge, von denen nur die Fotos, keine Namen, übrig geblieben sind.
Seid bitte aktiv!
Der am 24. Juni 2008 in Warschau verstorbene Józef Szajna hielt in seiner Kunst die Erinnerung an die Gräueltaten des Nationalsozialismus und Totalitarismus wach. Doch auch die Gegenwart und Zukunft der Welt betrachtete er mit großer Sorge. Als sensibler Mensch und präziser Beobachter machte er seine Zeitgenossen darauf aufmerksam, »dass wir gegenwärtig erneut der Gefahr der Uniformierung, einem Prozess der Gleichmacherei und Anonymisierung unterliegen. Jeder ist heute eine Nummer, nicht nur der Häftling.«. Um von dieser Situation abzulenken, werden die Schwachen gegen noch Schwächere ausgespielt, rücksichtlose Populisten feiern Triumphe, weil sie genau wissen, was man den gleichgeschalteten Massen auftischen muss: einen gemeinsamen Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. »Hört das noch jemand? Das Schrecklichste ist der Hass nach dem Hass, der Krieg nach dem Krieg, die Verachtung nach der Verachtung«, so Józef Szajna im zitierten Gespräch. »Beten und Kerzen anzünden ist zu wenig. Seid bitte aktiv!«
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Fotos © Manfred Wolff