Ihren 30. Geburtstag feiert die Fotogalerie Friedrichshain mit einer großen Retrospektive, in der knapp einhundert Arbeiten von 27 deutschen und internationalen Fotografinen und Fotografen aller Generationen präsentiert werden.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Neben dem Gästebuch ein altes Foto, genauer: eine Fotokopie. Darauf zwei Autos, offensichtlich ein Wartburg und ein Moskwitsch. Davor ein kleines Blumenrondell, um das sich eine lange Schlange windet. Die Menschen warten auf Einlass in das Lokal im Erdgeschoss, das, im Gegensatz zum üblichen Grau des fünfstöckigen Plattenbaus, verklinkert ist und große Fenster hat. Das Objekt ihrer Begierde ist kein Geschäft, in dem man die raren Waren erstehen und ergattern kann. Es ist, wie die Schriftzüge auf den Balkonen und neben dem Eingang verraten, eine Fotogalerie, wo im Sommer 1987 die Ausstellung »Ein Tag in Berlin« gezeigt wird.
Der Erfolg hat zwei Väter
»Ein Tag in Berlin« war die 18. Ausstellung der am 28. August 1985 am Helsingforser Platz 1 eröffneten Fotogalerie, der ersten und einzigen Galerie in der DDR, wo ausschließlich Fotos zur Schau gestellt wurden. Auch nach dem Untergang der DDR konnte sich diese Kunst- und Kultstätte trotz einiger, vor allem finanzieller Probleme im wiedervereinigten Berlin behaupten. Die nun 30-jährige Geschichte der Fotogalerie Friedrichshain, wie sie jetzt heißt, ist eine Erfolgsgeschichte. Am Anfang des Erfolgs standen zwei Väter: Ralf Herzig, Kunstwissenschaftler und Fotograf, und der freie Kurator Ulrich Domröse, der seit über zwei Jahrzehnten die Abteilung Fotografie der Berlinischen Galerie leitet. Die beiden Herren, Jahrgang 1955, kamen Anfang der 1980er Jahre auf die Idee, in der Hauptstadt der DDR eine Galerie zu etablieren, in der einzig und allein heimische und internationale Fotokunst exponiert werden sollte. Die Verhandlungen mit den zuständigen Ministerien und Ämtern zogen sich hin, denn die Fotografie ist in einem restriktiven Kontrollsystem eine heikle Angelegenheit: Wenn man sie ehrlich und im Einklang mit dem eigenen Gewissen betreibt, sagt ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte, es regt womöglich zum Denken und Nachdenken an. Und was geschieht, wenn an einem Ort hunderte Fotografien hängen? Nach drei Jahren war es dann soweit und die sieben Räume, insgesamt 200 Quadratmeter, die ihnen der Bezirk Friedrichshain im Neubau am Helsingforser Platz zur Verfügung stellte, konnten bezogen werden. Bei der Einrichtung der Fotogalerie war Ralf Herzig von Anfang an dabei und wachte persönlich darüber, dass alle Details stimmten. Das war nicht immer der Fall. Die Steckdosen wurden zwar an den richtigen Stellen angebracht, aber die Beleuchtung war nicht optimal, denn es gab in der DDR keine farbneutralen Glühlampen, und die großen Fenster, die sich in den gerahmten Fotografien unvorteilhaft spiegelten, wurden gegen seinen Willen eingebaut. Trotz dieser Mängel war er bereit, die Fotogalerie zu leiten. Doch es kam anders, denn die Bedingung war eine Mitgliedschaft in der SED oder in einer der Blockparteien. Das wollte und konnte Ralf Herzig nicht tun, und so fand die Eröffnung »seiner« Galerie ohne ihn statt.
Dramatisch, träumerisch, kritisch
Die Fotogalerie mit den Schwerpunkten Popularisierung des Erbes der Arbeiterfotografie, Vorstellung internationaler Kunst der Fotografie und der Fotografie der DDR wurde zu einem Publikumsmagnet. »Bei Ausstellungseröffnungen drängeln sich die Leute. Im Jahr sind es 50.000 Besucher, bis zu 10. 000 wurden bei Personalausstellungen gezählt«, schrieb »Sibylle. Die Zeitschrift für Mode und Kultur« in der Nummer 4/1987. Und die BZA (Berliner Zeitung am Abend) berichtete am 5. Januar 1989: »Zwischen 8.000 und 15.000 Besucher, darunter ein beträchtliches Stammpublikum, kamen im letzten Jahr in jede der Ausstellungen.« Kein Wunder, denn es gab dort nicht nur historische und zeitgenössische Arbeiten bekannter Fotografen und Fotografinnen aus der DDR wie Richard Peter sen., Arno Fischer, Bernd Heyden, Roger Melis, Helga Paris, Sybille Bergemann, Eberhard Klöppel, Harald Hauswald oder Eugen und Walter Heilig, sondern auch die der internationalen Fotogrößen wie Paul Caponigro, Tina Modotti und Imogen Cunningham zu sehen. Das war der Duft der großen weiten Welt, der die Räume am Helsingforser Platz durchzog und viele Leute anzog, die wenigstens für einige Augenblicke der Enge und Engstirnigkeit ihrer »Volksrepublik« entkommen und mit den Augen in die Ferne schweifen konnten. »Von Anfang an steht in der >Fotogalerie< zeitgenössische Fotografie im Zentrum, die sich mit Leben und Alltag, mit Individuum und Gesellschaft auseinandersetzt – engagierte Fotografie. Historisches taucht nur in der ersten Hälfte des Bestehens in Abständen auf – Vergewisserung fotografischer Traditionen oder urbane Zeitreisen. Nicht Werbe-, Sach- oder Modefotografie, keine glamourösen Inszenierungen oder Sensationsbilder, aber auch keine ästhetischen Grenzexpeditionen. Auf Wirklichkeit bezogene Fotografie – nüchtern, dramatisch, träumerisch, kritisch, bewegend. Schwarzweiß dominiert, Farbe und digital von Fall zu Fall, Experimentelles gelegentlich«, so Michael Nungesser in der Publikation »Die Fotogalerie Friedrichshain. Geschichte(n) und Ausstellungen«, herausgegeben 2010 zu ihrem 25. Jubiläum vom Kulturring in Berlin e.V., der sie seit Anfang der Nullerjahre betreibt.
Große Klasse und Masse
»Schwarzweiß dominiert, Farbe und digital von Fall zu Fall, Experimentelles gelegentlich«: Das ist der Eindruck, den die Ausstellung, mit der die Fotogalerie Friedrichshain ihren 30. Geburtstag feiert, durchaus vermittelt. Sie bleibt ihrer Tradition treu, was Qualität und Themenvielfalt der gezeigten Arbeiten betrifft. Knapp einhundert Fotografien aus der Zeit von 1914 bis heute können in der beeindruckenden Gruppenschau besichtigt werden, an der sich 27 Fotografinnen und Fotografen aller Generationen und aus vielen Ländern beteiligen, darunter Eugen und Walter Heilig, Tina Modotti, Horst Sturm, Willi Römer, Peter Leske, Helga Paris, Eberhard Klöppel, Sybille Bergemann, Ute Mahler, Varda Carmeli, Roger Melis, Dietmar Bührer, Günther Schaefer, Harald Hauswald, Mariusz Kubielas, Jörg Rubbert, Jürgen Bürgin, Jonek Joneksson, Vitus Olander und Devorah Kern. Mit Ausnahme von sieben Fotografien sind alle anderen schwarzweiß. Die Ausstellung ist nicht chronologisch geordnet, Altes hängt neben dem Neuen, Nüchternes neben dem Poetischen, Dokumentarisches neben dem Verträumten, Melancholisches und Ironisches neben dem Ernsten. Es ist eine vielseitige und vielschichtige Zeitreise, die mit den Bildern aus Berlin (Ost) der 1980er Jahre beginnt und nach New York, Tibet, Indien, Havanna, Georgia und Kairo führt. Eine Schau, die zeigt, wie die Welt sich verändert hat: Sie ist zugänglicher und offener geworden. Ferne Länder sind keine imaginären Orte mehr, die man nur auf Fotografien bewundern kann. Das Leben holte diesmal die Kunst ein. Was sich nicht verändert hat, ist das Publikum, das sich in der Fotogalerie nach wie vor drängt. Für den neuen Galerieleiter Felix Hawran ist es, was Klasse und Masse angeht, ein fulminantes Debüt. Ein guter Anfang verheißt, wenn man Felix heißt, auch in der Zukunft viel Glück.
Text © Urszula Usakowska-Wolff
30 Jahre Fotogalerie Friedrichshain
1985 – 2015
Noch bis zum 11. September
Helsingforser Platz 1
10243 Berlin
Di, Mi, Fr, Sa 14 bis 18 Uhr
Do 10 bis 18 Uhr
Eintritt frei