Der Titel der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam«, an der sich sechs Künstlerinnen und zwei Künstler aus aller Welt beteiligen, die ihre Wahlheimat größtenteils in Berlin gefunden haben, ist Programm. Abgesehen von den inhaltlichen Unterschieden, der spontanen oder rezeptiven Ausdrucksweise, dem Umgang mit den Sujets und dem Material, dem Farbauftrag und Pinselduktus haben die in der Galerie Auto & Art gezeigten gegenständlichen und abstrakten Arbeiten viele sichtbare, aber auch auf den ersten Blick unsichtbare Gemeinsamkeiten. Da der Schwerpunkt der von Christine Balbach kuratierten Schau, in der über 30 Werke vorgestellt werden, auf der Malerei liegt, führen die meist großformatigen Öl- und Acrylgemälde vor, welches Potential und welche Gestaltungsmöglichkeiten in diesem lange totgesagten und zum Glück sehr vitalen Genre stecken.
Die Welt ist ein vibrierendes Ornament
Die Bilder der Berliner Künstlerinnen Catherine Bourdon (* 1967 in Frankreich) und Daniela Bustamante (* 1980 in Ecuador) sind ein Fest der Farben und Formen. Die Welt ist ein vibrierendes Ornament ohne Hierarchien, in dem verschiedene Figuren agieren und interagieren, ein Tanz des Lebens, in dem die Menschen oder andere Kreaturen einen Moment innehalten, um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen und sich dann wieder von ihr zu lösen.
Alles bewegt sich auf lange Sicht
Statik und Dynamik sind auch keine Gegensätze in der Serie »Szenenbilder« von Marion Ehrsam (* 1963 in der Schweiz). Dadurch, dass sie Reispapier und Gaze als Bildträger benutzt und ihre Großformate nicht rahmt, sondern mit Klammerhaken an der Wand befestigt, wirken ihre urbanen Landschaften schwebend und offenbaren nach und nach, was sich darauf abspielt. Das Geschehen rückt langsam aus der Tiefe des Bildes an seine Oberfläche vor. Mit einigen wenigen Strichen und Farben gelingt es der Berliner Künstlerin, die Freude und die Einsamkeit der Menschen in einer gesichtslosen Architektur zu versinnbildlichen. Indem sie Einzelne porträtiert, verleiht sie ihnen ein Antlitz, entreißt sie der Anonymität und lässt sie zugleich, wie die roten Haare der Frau auf dem Bild »Am Hafen von Stralsund«, mit einem Kahn verschmelzen. Alles bewegt sich und geht ineinander über, auch wenn es offenbar wie erstarrt wirkt. Manche ihrer Bilder sind stark verfremdet und drücken das Gefühl der Bindungslosigkeit aus.
Einzeln genauso einsam wie gemeinsam
Erinnerung zieht sich wie ein roter Faden durch die fast monochrome Malerei der Berliner Künstlerin Nadia-Valeska Devonish (* 1986 in Deutschland), die für ihre Bilder Fundstücke wie alte Fotos, darunter auch die ihrer Familie, benutzt. Die Personen, die darauf zu erkennen sind, scheinen zugleich ephemer und präsent zu sein. Sie werden nie altern, da sie irgendwann als Kinder auf einem Schwarz-Weiß-Foto verewigt wurden und nun in ein Gemälde Einzug hielten. Sie tauchen aus dem Nichts auf und schweben vor einem pastosen, wolkenhaften Hintergrund. Sie haben keinen Boden unter den Füßen und prägen sich tief ins Gedächtnis, den Ort der schlummernden Erinnerungen, ein. Bewegend ist auch Nadias Bild »Confession (Alone / Together)«, auf dem ein maskenhaftes Frauengesicht in der Dunkelheit aufleuchtet. Das Muster des Beichtstuhls, welches auf ihr Konterfei fällt, lässt sie wie verschleiert aussehen. Vielleicht ist man einzeln genauso einsam wie gemeinsam: Vor und hinter dem Beichtstuhl.
Trompe-l’œil mit Reptil, Insekt, Narziss und Fossil
Das Markenzeichen des Berliner Künstlers Lee Young-sik (*1981 in Südkorea) sind einzigartige Stillleben, die er in altmeisterlicher Manier ausführt. Es sind zeitgenössische Vanitas-Bilder, nach Art von Trompe-l’œil gemalt. Auf seinem in der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam« gezeigten Gemälde sehen wir ein Chamäleon, das, in einen Rahmen eingezwängt, auf einem Stück Holz kauert. Der zusammengerollte Schwanz des Reptils mutet wie ein Ammonshorn, also wie ein Fossil, an. Auf der rechten Seite oben scheint ein Zweig mit roten Winterbeeren aus der Wand zu wachsen. Unten rechts versucht eine entkräftete Heuschrecke aus der Bildecke zu kriechen. So kann der Titel »Die Ästhetik des Schreckens« als ein Wort- oder Bedeutungsspiel verstanden werden. Wer ist hier schrecklicher: das eingesperrte Chamäleon, die schlappe Heuschrecke, die giftigen Früchte? Das kleine Krokodil auf Lee Young-siks Bild »Narziss und Abschied« scheint sich darüber zu freuen, dass der Vogel bei seinem Anblick tot umgefallen ist. Oder sah sich das Krokodil beim Blick in den matten Spiegel gar als Vogel? Und was war in der Tasche, auf der ein Bein des Reptils liegt? Fragen über Fragen, auf die es viele oder keine Antworten gibt. Fest steht: Ein gut gemaltes Bild ist immer schrecklich ästhetisch, denn es erinnert daran, das alles, außer Kunst, früher oder später den Weg des Irdischen gehen wird.
Im Gegensatz zu der figurativen oder weitgehend figurativen Malerei von Catherine Bourdon (der wir auch Keramikskulpturen von Mischwesen, Vögeln und Schädeln verdanken) sowie von Daniela Bustamante, Marion Ehrsam, Nadia-Valeska Devonish und Lee Young-sik fühlen sich die aus Kuba stammende und in Halle wohnende Eileen F. Almarales Noy (*1995) und Arián Irsula (*1984 in Kuba), der in Havanna lebt, der Abstraktion verpflichtet.
Das Individuelle im Seriellen
Eileens auf einige wenige Formen und Farben reduzierten, perfekt gestalteten, mehrteiligen Gemälde erinnern einerseits an die Op-Art von Victor Vasarely, andererseits an Veduten, die seit dem frühen 17. Jahrhundert an Popularität gewannen. Ihre Werke sind eigentlich Reliefs, die wie konvex-konkave Architekturausschnitte wirken. Sie sind das Ergebnis von Feldstudien, bei denen die Künstlerin die dem Verfall preisgegebenen Häuser oder andere Bauten in Havanna durch davor stehende, aufwendig gemusterte Metallzäune wie durch ein Guckloch betrachtet. Für ihre Reliefs verwendet Eileen F. Almarales Noy das jeweilige einzelne Musterelement, teilt es, passend zum Original, in mehrere Stücke und ordnet diese so an, dass sie, zusammen mit den freien weißen Flächen an der Wand, das von ihr Gesehene wiedergeben. Ihre Wandobjekte muten wie aus ihrem Zusammenhang gelöste Ornamente, Mosaiken oder Glasfenster an, wobei sie das Individuelle aus dem Seriellen heraushebt, um dessen Einzigartigkeit zu exponieren. Die Titel von Eileens Reliefs zeugen davon, dass sie auch eine verborgene politische Botschaft enthalten. Eines der in der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam« vorgestellten Bilder heißt »N. 3 Ingenieros de Almas« – Ingenieure der Seelen. Das war eine der Hauptforderungen des so genannten Sozialistischen Realismus in Ländern, die seiner Zeit etwas ungenau als »Ostblock« bezeichnet wurden. Sie richtete sich an Künstlerinnen und Künstler aus allen Disziplinen, die als Ingenieure der Seelen gute Arbeit leisten sollten, um einen neuen, sozialistischen Menschen zu konstruieren und zu erziehen, das heißt: ihn zu indoktrinieren und den Herrschenden gefügig zu machen. Dadurch sollte sich die »Erotik der Macht« noch mehr potenzieren, was aber nicht der Fall war, denn das Streben nach ideologisch geformten und genormten Untertanen ging, leider noch nicht überall, nach langer Zeit ziemlich abrupt zu Ende.
Politische Welt, die im Schach hält
»Politische Welten« sind, laut dem Titel, auch das Thema von Arián Irsula, eines nicht nur in Kuba anerkannten und gefeierten Malers, der in Havanna ein großes, auch von anderen gern genutztes Studio unterhält. Seine beiden Bilder in der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam« bestehen aus mit Farbe gefüllten Kreisen, die an Tondi erinnern. Die Farben wie Rosa, Blau, Rot und verschiedene Erdtöne scheinen zu explodieren, als wollten sie sich in alle Welt zerstreuen. Sie schaffen es aber nicht, denn sie werden von einem Kreis in Schach gehalten, der eine unüberwindbare Umgrenzung ist. Was vielleicht bedeutet: Wenn sich im Innern eines Kreises nichts ändert, wird alles wie gewohnt weiterlaufen und kein Laut nach außen dringen.
Die Zeit macht nicht vor allen Halt
Im Fokus der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam« steht zwar die Malerei und ihre mannigfaltigen Möglichkeiten, die Welt zu sehen, sehen zu lassen, über sie zu sinnieren und sie zu interpretieren, doch wir können hier auch das Leben und seine oft übersehenen oder vergessenen Aspekte aus der Sicht einer Video- und Fotokünstlerin betrachten. Die Berliner Filmemacherin Chrysanthi Goula (* 1991 in Griechenland) nahm 2009 ihren 14-jährigen Bruder beim Essen von grünen Bohnen in der Küche ihres Familienhauses in Griechenland auf. Um die Vergangenheit mit der Gegenwart zu konfrontieren, kehrte sie Ende 2023 in ihr trautes Heim zurück und fotografierte ihren Bruder beim Verzehr derselben Speise in demselben Ambiente. Die Fotoserie »Recycled Memory« zeigt, dass sich fast nichts verändert hat: das Geschirr, das Besteck, die Tischdecke. Diese in der Regel unsichtbaren Dinge des täglichen Gebrauchs sind zeitlos, sie begleiten das Leben von Generationen und gehören zu jenen Dingen des Alltags, die einfach immer da waren und da sind. Der Einzige, der sich in diesen 14 Jahren verändert hat, ist Chrysanthis Bruder. Der damalige Teenager ist nun 28 und somit ein junger Erwachsener geworden. Vor den Menschen macht die Zeit nicht halt.
Menschen, Landschaften, Stillleben, Vanitas-Motive
Der Titel der Gruppenschau in der Galerie Auto & Art wurde mit Bedacht gewählt. Das, was »JUNTOS« auszeichnet und die Ausstellung so sehenswert macht, sind die vielen Gemeinsamkeiten, die sich in den präsentierten Arbeiten beim genauen Hinschauen offenbaren. In der Malerei und im Video dominieren Menschenbilder in Form von Porträts (Daniela Bustamante, Nadia-Valeska Devonish, Chrysanthi Goula), urbane oder paradiesische Landschaften (Marion Ehrsam, Catherine Bourdon), Vanitas-Stillleben und Architekturdarstellungen nach Art von Trompe-l’œil (Lee Young-sik, Eileen F. Almarales Noy). Vanitas-Motive finden sich auch im Werk von Catherine Bourdon, zum Beispiel in der Mischtechnik »the winner is«, wo unter den vielen Sachen, Pflanzen und Vögeln die Umrisse eines Schädels entdeckt werden können. Es sind leuchtende Bilder, auch wenn ihre Farbgebung nicht immer so intensiv wie bei Daniela Bustamante und Arián Irsula ist.
Des Lebens Lust und Frust
Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung »JUNTOS – gemeinsam« reflektieren unaufdringlich, aber umso überzeugender, den Zustand der heutigen Welt. Sie sehen sich in einer Reihe mit den Dingen, denen ein langes Leben beschert ist und die von uns häufig respektlos behandelt werden. Menschen schmücken sich gern mit schönen Stoffen und Ornamenten und verschmelzen manchmal mit ihnen. Doch wenn die Staffage fällt, ist, wie auf dem Bild »El Abrazo« von Daniela Bustamante zu sehen, der Raum in gespenstisches Licht getaucht, sodass auch die innigste Umarmung wie ein Akt der Verzweiflung wirkt. Das Leben ist schön und grausam, heiter und traurig, lustig und frustig, ernst und verspielt. Es ereignet sich vor unseren Augen und prägt sich manchmal in unsere Erinnerung ein.
Die Kunst, die wir in der Schau »JUNTOS – gemeinsam« besehen, kann uns helfen, die Tiefen und Höhen unserer individuellen und kollektiven Existenz zu verstehen.
Text und Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
JUNTOS – gemeinsam
mit Catherine Bourdon, Daniela Bustamante, Nadia-Valeska Devonish, Marion Ehrsam, Chrysanthi Goula, Arián Irsula, Lee Young-sik, Eileen F. Almarales Noy
Kuratorin: Christine Balbach
11. Januar–18. April 2024
Galerie Auto & Art >>>
Montag–Freitag 10:00–17:00 Uhr oder nach persönlicher Absprache