Der Bildhauer Jürgen Jaehnert und der Maler Mario Lischewsky haben sich erst vor kurzem kennengelernt. Sie gehören verschiedenen Disziplinen und Generationen an, doch wenn man ihre Arbeiten betrachtet, entsteht der Eindruck, als führten sie schon seit geraumer Zeit einen kreativen und gegenseitig inspirierenden Dialog. Monochrome und sachliche Skulpturen passen offensichtlich zu expressiven und farbenfrohen Gemälden. Viele Motive sind komplementär und wie intendiert aufeinander bezogen. Das ist ein Zufall, der aber auf eine Wahlverwandtschaft hinweist. Eine glückliche Fügung, dass sich die beiden Künstler begegnet waren, und, nachdem sie im vorigen Sommer eine gemeinsame Ausstellung in der Galerie 100 in Berlin-Lichtenberg präsentierten, nun fast 30 Arbeiten im Bulgarischen Institut zur Schau stellen.
Enorme Energie und dynamische Endlosschleifen
Was Mario Lischewsky und Jürgen Jaehnert verbindet, ist die Präzision und Perfektion, mit der sie ihre Arbeiten ausführen, sowie ein sicheres Gefühl für das verwendete Material und das, was mit seiner Hilfe ausgedrückt werden soll. In ihren Werken gehen intellektuelle Fähigkeiten mit den manuellen Fertigkeiten Hand in Hand. Da sie Pädagogen sind, wissen sie aus Theorie, was unternommen werden muss, damit sich eine Idee in die Praxis, also in ein Kunstwerk verwandelt. Mario Lischewskys Malerei ist spontan. Sie offenbart die enorme kosmische Energie, die das Universum durchdringt. Die auf den ersten Blick sachlichen, genau konzipierten konkreten Skulpturen von Jürgen Jaehnert wirken wie ruhende Pole. Sie entfalten aber eine körperlich spürbare Dynamik, wenn man sich in ihrer Nähe befindet. Mit runden oder ovalen Öffnungen versehen, erinnern sie an ineinander verschachtelte Ringe, Pilze, Turbinen oder Masken.
Faszinierende unendliche Schleifen
Der gebürtige Berliner Jürgen Jaehnert arbeitete nach dem Studium an der legendären, von Max Bill gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm, zuerst als Designer, unter anderem in der Nixdorf Computer AG Paderborn. Von 1981 bis 2007 war er Professor für Industrielles Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Seit 2012 lebt er wieder in Berlin und ist freischaffender Bildhauer. Inspiriert von der Natur und ihrer Formenvielfalt, von der Technik und der Geometrie, schafft er dynamisch geformte Skulpturen. Sein Arbeitsprozess zeichnet sich durch Stringenz und Präzision aus. Vor der Ausführung eines Werks erarbeitet er eine genaue Vorstellung von dessen Endform und überlegt, welcher Stoff dafür am geeignetsten ist. Er benutzt Ton, Gips, Hartschäume und anderen Werkstoffe, aus denen auch die Originale für seine Bronze-, Aluminium- und Kunstharzgüsse entstehen. Viele seiner Objekte sind Variationen zum Thema unendliche Schleife, von der auch andere Bildhauer wie Max Bill oder Josef Neuhaus fasziniert waren und die im Werk zeitgenössischer Künstler wie Michelangelo Pistoletto einen wichtigen Platz einnimmt.
Kühle Ästhetik und Sinnlichkeit
Was in Jaehnerts Objekten auffällt, ist das Spiel zwischen konkaven und konvexen Figuren, zwischen Außen und Innen, zwischen Leere und Volumen. Er veranschaulicht die Dualität der Formen, die sowohl vollkommen als auch unvollkommen, einzigartig und wiederholbar, rund und eckig, endlich und unendlich sind. Ihre Dynamik entfaltet sich, wenn sie von den Betrachtern umrundet werden. Dann können sie in die Werke hineinsehen und zum Beispiel ein Ei aus Stein entdecken, oder durch die Öffnungen einen ausschnitthaften Blick auf die Umgebung werfen. Jürgen Jaehnerts perfekt gestaltete Arbeiten leben von der Bewegung, verändern sich bei jedem Schritt, scheinen zu schwingen oder zu rotieren. Ihre Oberflächen sind selten glatt, häufig porös oder vom Künstler mit Schraffuren versehen, wodurch er ihnen eine zusätzliche Plastizität und Haptik verleiht. Er verbindet kühle Ästhetik mit Sinnlichkeit, bezieht den Schatten mit ein. Seine Objekte sind magisch und geheimnisvoll, fest und flüchtig, einfach und raffiniert, ruhig und voller Energie.
Seelenbilder mit ausschwärmenden Augen
Die Bilder von Mario Lischewsky, die er in den letzten drei Jahren mit Ölpastell auf Leinwand oder Karton gemalt hat, sind ein Feuerwerk aus Farben und scheinbar abstrakten Figuren. Seltsame Augen, die auch Brüste sein könnten, breiten sich auf der Bildfläche in Schwärmen aus, als wollten sie den Bildrahmen sprengen. Sie verkörpern das Universum und seine schöpferische Energie, die sich stets in etwas Neues verwandelt, um den Geist und den Körper in Bewegung zu halten. In Marios Kunstkosmos gehen biomorphe und anthropomorphe Formen ineinander über. Sie stehen für die Schönheit des Lebens und seine unendlichen Metamorphosen. Er nennt sie »Seelenbilder«: innere Welten, die nach außen strömen. Sie entstanden während der Corona-Pandemie und des Lockdowns, als der Künstler merkte, wie wichtig die Gemeinschaft ist, auf die er nicht ganz verzichten musste, denn er konnte mit seinen Studenten und Schülern mithilfe von Online Meetings in Verbindung bleiben. Wie Jürgen Jaehnert ist auch Mario Lischewsky ein begnadeter Lehrer. 1976 in Sofia geboren, studierte er an der dortigen Akademie der Schönen Künste Malerei und Pädagogik. Seit 2001 lebt er in Berlin, ist Dozent an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, darüber hinaus unterrichtet er Kunst an der Freien Waldorfschule Kleinmachnow.
Bunter Reigen des Lebens
Die Begegnung mit der Natur, die er in der Pandemie-Zeit für sich entdeckte, leitete in Marios Schaffen eine neue Werkphase ein. Es blieb ihm nicht verborgen, dass, wenn alle Menschen eine Maske tragen müssen, das Auge zum zentralen Wahrnehmungs- und Kommunikationsorgan wird. Von seinen Eindrücken und Gefühlen überwältigt, begann er, Bilder zu malen, die ihn selbst überraschten, denn sie waren häufig anders als sonst. In der Farbgebung und Gestaltung erinnern sie an die Gemälde der schwedischen Malerin Hilma af Klint. Sie sind eine Hymne auf die Schönheit des Lebens, das, wie ein bunter Reigen, ständig in Bewegung und außerordentlich wandlungsfähig ist. Die Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur, Individuum und Gruppe, Erotik, Körper und Körperlosigkeit sind seine Themen. In seinen expressiven Malereien lotet er die Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration, Entfaltung und Einschränkung, zwischen der inneren und der äußeren Welt aus. Mit einem Geflecht aus Linien und Schraffuren versehen, korrespondieren sie auch in dieser Hinsicht mit den Skulpturen von Jürgen Jaehnert.
Die Doppelausstellung im Bulgarischen Institut präsentiert Werke von zwei Künstlern, die sich unterschiedlicher Mittel und Ansätze bedienen, um die Vielfalt des Universums und seiner Geschöpfe darzustellen. Das gelingt – und das zahlreich zur Eröffnung erschienene Publikum ist beschwingt.
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Fotos © Mario Lischewsky, Urszula Usakowska-Wolff
Mario Lischewsky & Jürgen Jaehnert ǀ Malerei & Skulptur
16.06–20.08.2023
Bulgarisches Kulturinstitut in Berlin
Leipziger Straße 114-115, 10117 Berlin
Mo–Fr von 10 bis 18 Uhr
Eintritt frei