Die Nordbahnstraße in Reinickendorf, einige Gehminuten vom S-Bahnhof Schönholz entfernt, ist, abgesehen vom Flugzeuglärm, eine ruhige Gegend. Schlichte viergeschossige Wohnblocks aus den 1950er und 1960er Jahren fallen höchstens dadurch auf, dass manche etwas gewagt gestrichen sind: rosa, gelb und grün. Dazwischen stehen schmucke Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten. Das gesellige Leben spielt sich in der Kneipe Nord-Kurve ab, in der Stammgäste und Hertha-BSC-Fans verkehren. Sie grenzt an das Anwesen mit der Nummer 10 an, über dem vier mächtige rote Schornsteine ragen: Wahrzeichen der am Anfang des vorigen Jahrhunderts gegründeten und Mitte der 1990er geschlossenen Fischverarbeitung Erich König, im Volksmund Fischfabrik oder Fischräucherei genannt.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Diese Fischfabrik war schon immer ein kleines Familienunternehmen, in dem Räucherfisch und Fischfeinkost hergestellt und verkauft wurden. In den letzten Jahren ihres Bestehens befand sie sich fest in Frauenhand: Ihre Eigentümerinnen und Geschäftsführerinnen waren die Zwillingsschwestern Helga und Renate König sowie ihre vier Mitarbeiterinnen. Die König-Zwillinge wohnten und arbeiteten auf dem Fabrikgelände. Das geräumige, 180 Quadratmeter große Haus mit den beiden gegenüberliegenden Schlafzimmern und der guten Stube im Erdgeschoss und dem Konferenzsaal in der oberen Etage, die wie ein Museum des Gelsenkirchener Barock anmuten, war ein fester Bestandteil ihrer Produktionsstätte. Heute ist das lange Zeit ungenutzte und verfallende Anwesen ein Relikt aus den guten alten Zeiten, als es noch eine räumliche Einheit zwischen Arbeit und Leben gab – und die seit Jahrzehnten vor Ort angesiedelten Familienunternehmen mitten in einem Wohngebiet wirken konnten:
»Die Fischverarbeitung Erich König steht einerseits für eine starke lokale Tradition, verkörpert aber zugleich eine spezifisch bürgerliche Utopie des Mittelstands.«
Ein Amerikaner in Reinickendorf
Dieser Satz stammt von Howard McCalebb, der seit Anfang 2009 ein neues Kapitel in der Geschichte der Fischfabrik schreibt: Er gründete dort nämlich die Galerie Dada Post, in der internationale und lokale Kunstfeinkost acht- bis zehnmal im Jahr ausgestellt und zum Teil vor Ort produziert wird. Der am 13. Mai 1947 in Indianola, Mississippi Geborene ist ein bekannter abstrakter US-amerikanischer Bildhauer: 2000 wurde eine seiner Skulpturen in der Ausstellung »Welded Sculpture of the Twentieth Century« im Neuberger Museum of Art in Purchase, New York, neben Werken großer Meister wie Picasso, Anthony Caro und Julio González gezeigt. McCalebb studierte Bildhauerei an der Cornell University in Ithaka, NY, und an der California State University in Hayward. Danach war er Dozent und Professor an zahlreichen US-amerikanischen Kunsthochschulen und Universitäten, zuletzt an der Parsons School of Design in New York City. 2001 unterrichtete er an der Nationalen Akademie für Bildende Kunst in Hangzhou in der Volksrepublik China, zwei Jahre später an der American University of Sharjah in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er verbrachte fast drei Jahrzehnte seines Lebens in New York City, arbeitete aber schon immer mit europäischen Künstlern zusammen und stellte unter anderem in Österreich, Dänemark, Deutschland und Polen aus. Seine geschweißten, bevorzugt mit Signalfarben bemalten, offenen Skulpturen stehen im öffentlichen Raum vieler Städte, darunter in Baltschik (Bulgarien), Alytus (Litauen) und Borhaug (Norwegen). Von den amerikanischen Medien wird Howard McCalebb als »bi-continental artist« bezeichnet, denn er wohnt abwechselnd in Berlin-Reinickendorf und in der kalifornischen Kleinstadt Oroville in Buttle County.
Spezielle West-Berlin-Melancholie
Der Name »Dada Post« knüpft einerseits an die Dada-Bewegung an, die in Berlin Anfang der 1920er Jahre als genreübergreifende Antikunst für großes Aufsehen sorgte. Zum anderen ist Howard McCalleb vor allem an solcher Kunst interessiert, die zwar »nach Dada« entsteht, jedoch aus den Erfahrungen dieser anarchistischen und interdisziplinären Richtung schöpft. Das über 1200 Quadratmeter große Gelände der einstigen Fischfabrik und ihre Bebauung: das Wohn- und Bürohaus der König-Zwillinge, die Räucherkammer im Stil des Fachwerks, der geflieste Laden, der Kühlraum, die niedrigen Wirtschaftsbauten und die unterirdischen Wasserbehälter sind Readymades, geradezu prädestiniert, in die Kunstwerke einbezogen zu werden. »Ich kam nach Berlin, weil in der Stadt eine ähnliche schöpferische Atmosphäre herrscht, wie im New York der 1980er Jahre«, erklärt der Bildhauer. »Wegen der immer noch erschwinglichen Mieten für Wohnungen und Ateliers, der relativ niedrigen Lebenshaltungskosten sowie der vielen Galerien und Sammler lassen sich hier Kreative aus aller Welt nieder. Die Kunstszene ist innovativ, frisch und spannend. Deshalb wollte ich in Berlin eine Galerie, besser gesagt einen Kunst- und Projektraum besitzen, um das alles zu zeigen. Als mir die König-Zwillinge ihre Fabrik an der Nordbahnstraße 10 zum Kauf angeboten haben, zögerte ich nicht lange, obwohl ihr Umfang für mich eigentlich zu groß war und ich ursprünglich an eine Location im Zentrum des Kunstgeschehens, also in Mitte oder in Kreuzberg, dachte. Doch ich spürte, dass dieser Ort in Reinickendorf mit seiner speziellen West-Berlin-Melancholie mir vorbestimmt war. Ich hatte den Eindruck, dass er sich mich ausgesucht hatte, und nicht ich ihn.«
Wie in einem Hitchcock-Film
In den letzten zweieinhalb Jahren hat sich Dada-Post zu einer lebendigen Kunststätte entwickelt: Vor allem dank der organisatorischen und kuratorischen Unterstützung von Marcel Hager, eines freischaffenden Galeristen, der nach Stationen im Stuttgarter Umland und in Wien seit 1992 in Berlin lebt und beste Kontakte zur innovativen deutschen und internationalen Kunstszene pflegt. Neben Howards Bildhaueratelier, den Ausstellungsräumen in der einstigen Fischräucherei und der Kühlhalle, in der Videoprojektionen gezeigt werden, und dem Skulpturenhof, auf dem sich seine Werke und die von Hans Höppner sowie temporäre Installationen anderer Künstler befinden, gibt es im Wirtschaftsgebäude ein Gaststudio, das gemietet werden kann: Aus der fish factory ist eine art factory geworden. Die zur Kunstfabrik mutierte Fischfabrik ist Rahmen und häufig auch Gegenstand der dort ausgestellten oder produzierten Kunstwerke. So beschäftigte sich zum Beispiel die Gruppenschau »Hinterland« im Sommer und Herbst 2010, an der unter anderem Sybille Hofter beteiligt war, mit der Geschichte des Familienunternehmens. Die Berliner Multimediakünstlerin lud die König-Zwillinge Helga und Renate zur Zusammenarbeit ein und ließ die Fotos aus deren Privatalben in das Projekt einfließen. Auch ein Teil der gegenwärtigen Ausstellung der Dada Post spielt sich in ihren Schlafzimmern und der guten Stube wörtlich und bildlich ab: Dorotea Doreen Etzler, die Betreiberin von allgirls international art berlin, schnitt für die Toninstallation »Zwei Frauen« den Sound mehrer Filme aus den 1950er bis 1970er Jahren zusammen. Die auf einige Minuten gekürzten Dialoge kann man aus den Lautsprechern hören, die neben den großen Doppelbetten in den beiden Schlafzimmern stehen. Auf dem Bildschirm des Fernsehens im Wohnzimmer laufen Szenen aus 60 Filmen, aus denen die Künstlerin alle Menschen ausgeschnitten hat. Sie zeigen Verkehrsmittel: Züge, Autos, LKWs, Schiffe, Yachten und Flugzeuge, die manchmal in Flammen aufgehen. »Nature cut. Alles für die Reise« heißt das Ganze und bewirkt, dass man sich in den einst von zwei ledigen Frauen bewohnten, heute leeren, obwohl mit ihren Möbeln vollgestopften Räumen, wie in einem Hitchcock-Film fühlt.
Irdische Dimensionen
Auf dem Hof ist es entspannter und heiterer, so dass man sich keine Gedanken darüber machen muss, ob und welche Geheimnisse ein Haus birgt. Auf einer kleinen Hütte steht ein Fahrrad, auf einem etwas heruntergekommenen Mäuerchen eine Holzkonstruktion, auf der eine Leine mit großen bunten Wäscheklammern hängt: Es sind Arbeiten der UdK-Klasse von Karsten Konrad. Genauso wie der Professor schöpfen seine Studenten die Ideen aus dem Alltag. Sie schaffen Kunstwerke aus Abfall oder billigen Materialien, die sie auf Flohmärkten oder in Baumärkten kaufen. Ähnlich gehen auch die beiden anderen Künstler vor, die unter Dach ausstellen. Der in Berlin lebende Däne Anders Hellsten Nissen benutzt einen Betonmischer, den er im Baumarkt für 200 Euro gekauft hat, und füllt ihn mit 390 roten, gelben und blauen Plastikbällen. Das Gerät schaltet sich alle sechs Minuten automatisch ein, rotiert, und lässt immer neue, zufällige Farbkonstellationen entstehen. Die Ergebnisse hält Nissen auf kleinen Acrylbildern fest, die seinen »Mixmaster« ergänzen. Für ihre kritische Auseinandersetzung mit der Raumforschung als physische Struktur und politische Einheit mit dem Titel »Quantum Questions für Dummies« verwendet Aisling O‘ Beirn aus Belfast schalldämpfende Stoffe oder Verpackungsmaterial digitaler Geräte. Damit umhüllt sie Monitore, auf denen animierte Formen flimmern, die sich auf empirische und theoretische Strukturen von zeitgenössischen Astronomen beziehen. Die Künstlerin zweifelt daran, dass sie uns die ganze Wahrheit über den Stand der kosmischen Dinge sagen. Wie man sieht und hört, hat der Kunstkosmos des Planeten Dada Post irdische Dimensionen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 18, August-September 2011
Gruppenschau mit Aisling O‘ Beirn, Dorotea Doreen Etzler, Anders Hellsten Nissen und der UdK-Klasse Karsten & Seine Freunde
bis 21.August 2011
DADA POST
Nordbahnstraße 10
13409 Berlin
Do-So 13 – 18 Uhr
Eintritt frei
Nächste Ausstellung:
Optipism Projekt: Interdisziplinäre Kunst aus Dänemark
27.August – 25. September
Vernissage: 27. August, 19 Uhr
Ausführliches Programm und Info: