Da steht sie, hochaufgeschossen, mit spitzen langen Ohren, die fast bis zur Decke reichen. Sie scheint in stiller Trauer versunken zu sein, ihre Hände drückt sie fest an die Brust. Sie wirkt grazil und trotzdem kräftig, schutzlos und stark, entrückt und präsent, kompakt und transparent. Mit Patina bedeckt, wirkt sie trotzdem zeit- und alterslos, verletzlich und unvergänglich. Ihre lange Robe ist von der Taille abwärts perforiert. Durch die kleinen Löcher fällt Licht ins Innere, spiegelt sich im Parkett. Die kegelförmige Spalte in der unteren Mitte ist wie der Eingang ins Himmelszelt, wo man sich verstecken oder Schutz suchen und zugleich durch die fein durchlöcherten Wände nach außen gucken kann.
Dinge verzaubern
Die anthropomorphe Figur unter dem Titel »Usagi Kannon« ist über drei Meter groß und ein Eyecatcher der Ausstellung »Witty Witches« von Leiko Ikemura im Georg-Kolbe-Museum. 1951 in der japanischen Stadt Tsu, Präfektur Mie geboren, studierte sie zuerst spanische Literatur an der Staatlichen Universität Osaka und dann Malerei an der Universidad de Sevilla in Spanien. 1979 zog sie nach Zürich, lebte anschließend in Nürnberg, Köln und wohnt seit Anfang der 1990er Jahre in Berlin, wo sie fast 15 Jahre lang eine Professur an der Universität der Künste hatte. Diese gab sie 2015 auf, um mehr Zeit für ihre schöpferische Arbeit zu haben. Die mit vielen Talenten gesegnete Künstlerin – Bildhauerin, Malerin und Lyrikerin – schafft ein grenzüberschreitendes Werk, in dem es keine Hierarchien zwischen den Spezies, Religionen und Kulturen gibt. Alles fließt ineinander, verschmilzt zu einem harmonischen Ganzen. So ist »Usagi Kannon« (2012–2018) ein Mischwesen aus einem (weiblichen) Hasen (Usagi), der buddhistischer Gottheit des Mitgefühls (Kannon) und der christlichen Schutzmantelmadonna. Sie erinnert auch an eine antike griechische Karyatide. Es ist einerseits ein Denkmal Ikemuras für die Opfer der Tsunami-Katastrophe von 2011 in Fukushima, andererseits ein subtiler Hinweis, möglichst im Einklang mit der Natur und sich selbst zu leben, denn, wie es in ihrem Gedicht, der eine Museumswand füllt, heißt:
Charmant und amüsant
Für den Zauber, der von der Ausstellung ausgeht, sorgen die »Witty Witches«, ausgefuchste listige Hexen, die sich in der Entourage der Schutzmantelhäsin befinden. Sie reiten nicht auf Besen, sie kreisen nicht, wie auf Francisco de Goyas Gemälde »Vuelo de Brujas« (Hexenflug, auf Englisch Witches in the Air, 1798), sondern sind auf weißen Podesten verharrende menschlich-animalische Wesen. Dazu gehören Papageienhasen, Katzendamen und Katzenmänner, manche janusköpfig, manche kopflos, aus Bronze oder Terrakotta, archaisch, magisch, glatt, perforiert, geschlitzt, gewitzt, zugleich charmant und amüsant. Sie sind Variationen zum Thema Körper und Hülle, Form und Formlosigkeit, Skulptur gewordene, innen hohle freundliche Hausgeister, denen man unter den Rock oder in den Kopf schauen kann. Man weiß zwar nicht, was sie im Schilde führen, doch sie scheinen domestiziert zu sein und verbreiten gute Laune. Diese in den ersten drei Ausstellungsräumen präsentierten fast monochromen (weißen) Figuren sind Kreaturen, die durch raffinierte Details auffallen: Der »Cat Man« (Katzenmann, 2021) hat an jeder Hand je drei Finger, mit denen er einen Fisch hält, der wie ein Amulett aussieht. Die ihm gegenüber postierte »Cat Woman«(Katzenfrau, 2021) presst ihre insgesamt acht Finger, deren Nägel durch die vereinzelten roten Punkte wie lackiert anmuten, an die Brust. Ihre Nase ähnelt einem Schnabel. Aus der Entfernung sieht sie wie eine Fischbüste aus. In Leiko Ikemuras fabelhaften Universum ist alles möglich und nichts eindeutig. Ihre Objekte sind sowohl Skulpturen als auch Architekturen, sie beziehen sich sowohl auf die Natur als auch auf die Kultur, sie sind sowohl stabil als auch fragil.
In einem Stück nach vorn und zurück
Die androgynen doppelgesichtigen Wesen »Usagi Girl Double-Headed« (2018; eine Anspielung auf die Anime-Figur Hasenmädchen) und »Usagi Double-Headed Hoshi« (2018; Mondhäsin) blicken sowohl nach vor als auch zurück. Unabhängig von der Blickrichtung sehen sie düstere Gemälde aus der Serie »Kuro Ame« (so heißen beliebte japanische Bonbons aus Kandiszucker), die in dieser Ausstellung zum ersten Mal präsentiert werden. Vielleicht zeigen sie nach Zucker lechzende Dämonen, die in den Menschen wohnen oder eine Katastrophe, in der die Welt zugrunde geht. Aus dem dunklen Bildhintergrund steigen einzelne Hände und verschwommene Köpfe auf. Aber womöglich ist noch nicht alles verloren, worauf zwei funkelnde Sterne und eine fast intakte Rose auf den Bildern I und II hindeuten.
Marode Mädchenfiguren und morbide Hybride
Marode Mädchenfiguren, ein wiederkehrendes Thema in Ikemuras Werk, bevölkern den vierten Raum der Soloschau »Witty Witches« von Leiko Ikemura im Erdgeschoss des Georg-Kolbe-Museums. Keine davon ist intakt, sie lassen an archäologische Funde, an kleine aufgebrochene Sarkophage eines Lapidariums denken. Mit Ausnahme der »Doppelfigur mit Vogel im Arm« (1998-2002) und der »Liegenden blau« (1997-2020) sind sie aus glasierter Terrakotta. An den graugestrichenen Wänden hängen rätselhafte Mädchenbilder: »Wedding Girl« (Hochzeitsmädchen) und »Girl in Bright Yellow« (Mädchen in Knallgelb), beide 2021 gemalt. Im hinteren, rosafarbenen Kabinett liegt auf einer Art Grabhügel aus weißen Steinchen eine silberne Körperhülle. Sie ist eine Mischung aus einem Mädchen und einem Mollusken, hat ein Loch in der Brust, ihre untere Hälfte ist wie eine Muschelschale aufgebrochen und hohl. Es könnte auch eine geöffnete Vulva sein. Unabhängig von der Interpretation wirkt die morbide Hybride entrückt, als sei sie in einem Traum versunken, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. »Memento Mori« heißt die Skulptur, was das Dargestellte erklärt. Doch so ganz eindeutig ist das nicht, denn es könnte sich, wie in anderen Kunstwerken von Leiko Ikemura, auch um eine Metamorphose handeln: die Verwandlung eines Mädchens in eine Frau oder die Transformation eines Lebewesens in ein anderes. Und obwohl die silbrig Liegende aus Terrakotta geschaffen wurde, sieht sie wie eine Aluminium-Plastik aus.
Zwischen Diesseits und Jenseits
Während das Memento-Mori-Girl schläft, hält die Videoarbeit »Pink Hair« das Publikum wach. Es sieht langsam fließende Landschaften in Pastell, die peu à peu ineinandergleiten und überraschende Motive erkennen lassen: Köpfe schweben über dem Wasser oder den Bergen, manche liegen auf der Erde und wirken leblos, in sich gekehrt, wie nicht von dieser Welt. Schlafen sie oder sind sie tot? Leben sie nur noch in der Erinnerung, die immer undeutlicher wird und mit der Zeit verblasst? Sind das Sinnbilder der Gedanken oder Traumsequenzen, die zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Gedenken und Vergessen schweben?
Von weißen Hexen zu farbigen Glasbüsten
Ganz diesseitig ist die Dramaturgie der Ausstellung, die gekonnt mit Kontrasten spielt. Sie fängt mit White Witty Wiches an, deren Heiterkeit und Humor sich im Girl-Teil im Nachsinnen über existentielle Fragen verflüssigt. Eine neue Werkphase in Leiko Ikemuras Kunst ist im Untergeschoss zu sehen: acht Glasskulpturen mit Darstellungen anthropomorpher Büsten und Köpfe, in denen sich Licht bricht. Je nach Farbe des jeweiligen Objekts, Tageszeit und der Position der sie Begehenden und Betrachtenden scheinen sie sich zu bewegen. Gegenüber hängen »Blaue Bilder« (2020), die wie Planeten mit menschlichem Antlitz aussehen und einen funkelnden Dialog mit den gläsernen Kreaturen eingehen.
Sinn für Tradition und Reduktion
»Witty Witches« zeigt das faszinierende Werk einer vielseitig begabten Künstlerin, die eine Meisterin der Reduktion ist und ein Faible für sparsame Formen und bewährte Materialien hat: Glas, Bronze und Terrakotta, die sie für ihre Skulpturen benutzt; Pigmente, Öl und Eitempera, mit denen sie auf Nessel oder Jute ihre Bilder malt. Ihre Motive, besonders die Köpfe und Frauenfiguren, wirken vertraut. Sie erinnern an die von Odilon Redon oder von Edgar Degas (vor allem an seine Plastik »Die kleine vierzehenjährige Tänzerin«, um 1880). Die Bildhauerin und Malerin schöpft aus vielen Quellen, doch ihre Arbeiten sind auf Abhieb als genuin erkennbar. Leiko Ikemura meißelt und malt auch mit Worten. Obwohl ihr die heutige Zeit schlaflose Nächte beschert, sind ihre Verse an der Wand kein Menetekel, sondern ein Versuch, den scheinbar unlösbaren Problemen der Gegenwart und Zukunft mit leisen Tönen und leichten Schritten, also in stiller Entschlossenheit zu begegnen:
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Leiko Ikemura
Witty Witches
Kuratorin: Elisabeth Heymer
Ausstellungsarchitektur: Philipp von Matt
21. Januar–01. Mai 2023
Georg-Kolbe-Museum >>>
Sensburger Allee 25, 14055 Berlin
Mi-Mo 11:00 Uhr bis 18:00 Uhr, dienstags geschlossen
Freier Eintritt: bis 18 Jahre
Jahreskarte: 35 Euro