Leiko Ikemura ist mit vielen Talenten gesegnet. Das vielschichtige Werk der in Berlin lebenden Malerin, Grafikerin, Fotografin, Bildhauerin und Lyrikerin ist jetzt zum ersten Mal in diesem Umfang in der Einzelausstellung unter dem Titel »… und plötzlich dreht der Wind« im Haus am Waldsee zu sehen. In den Arbeiten, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, befasst sich die Künstlerin mit universellen Fragen, mit der Fragilität und Endlichkeit der menschlichen Existenz, das heißt: mit dem unendlichen Kreislauf von Leben und Tod.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Auf den ersten Blick scheinen die großformatigen Gemälde von Leiko Ikemura Seestücke zu sein. Das deuten ihre Farbigkeit und ihre Sujets an: Blautöne, Grüntöne, Erdfarben: eine Palette, die der Landschaftsmalerei eigen ist. Zu erkennen sind darauf Felsformationen, die aus dem Meer ragen, Berge und Bäume, die Seen säumen, Wolken, die wie Rauchschwaden über den Bergen hängen, und ein Himmel, der mal dunkel, mal lichtdurchflutet ist. Schön sind diese Bilder und sie muten wie Traumsequenzen an: Sie sind präsent und entrückt, kräftig und gedämpft, dynamisch und starr, wie mit einem unsichtbaren Schleier verhüllt. Wenn man sich ihnen nähert, tauchen in der Landschaft neue Motive auf: Frauenköpfe schweben über dem Wasser oder treiben darin, Mädchen liegen auf der Erde und wirken leblos, in sich gekehrt, wie nicht von dieser Welt. Schlafen sie oder sind sie tot? Leben sie nur noch in der Erinnerung, die immer undeutlicher wird und mit der Zeit verblasst? »Der Kopf schwebt / losgelöst vom / Diesseitigen«, schreibt die Künstlerin und Lyrikerin in einem ihrer Gedichte.
Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze
Um Kosmos und Erde, um Werden und Vergehen, um den Kreislauf von Leben und Tod geht es in Leiko Ikemuras vielseitigem und vielschichtigem Werk. Die im Haus am Waldsee unter dem Titel »… und plötzlich dreht der Wind« ausgestellten Arbeiten zeigen die Unbeständigkeit und Endlichkeit des Seins und die Beständigkeit und Unendlichkeit des Universums allem menschlichen Tun zum Trotz. Sie zeigen die fast menschenleere Welt unmittelbar vor oder bereits nach der Katastrophe. Sie bewegen sich zwischen Traum und Albtraum, strahlen Ruhe und Beklemmung, Melancholie und Energie aus. Erstaunlich ist auch die Balance zwischen der Monumentalität und der Fragilität: Die an gold- und blaugestrichenen Wänden hängenden Großformate sind luzid und luftig, düster und leuchtend, transparent und unheimlich, beunruhigend und harmonisch. Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze lässt sie als solche nicht erscheinen, was daraus resultiert, dass die Künstlerin sich mit existentiellen Fragen befasst und sie mithilfe traditioneller Materialien perfekt in Szene setzt. Ihre Plastiken sind aus Bronze oder Terrakotta, sie benutzt Pigmente und Eitempera, mit denen sie auf Jute malt, sie fertigt Monotypien auf Japanpapier, sie nimmt schwarz-weiße Fotografien mit einer analogen Kamera auf, sie schreibt haikuähnliche Kurzgedichte.
Unverkennbare Handschrift
»Horizontsüchtig bin ich geworden / seitdem ich meine Heimat verlassen habe«, dichtet Leiko Ikemura, und diese Dichtung ist Wahrheit. 1951 in der japanischen Stadt Tsu, Präfektur Mie geboren, studierte sie zuerst spanische Literatur an der Staatlichen Universität Osaka und dann Malerei an der Universidad de Sevilla in Spanien. 1979 zog sie nach Zürich, lebte anschließend in Nürnberg, Köln und wohnt seit Anfang der 1990er Jahre in Berlin, wo sie fast 15 Jahre lang eine Professur an der Universität der Künste hatte. Diese gab sie 2015 auf, weil sie mehr Zeit für ihre schöpferische Arbeit haben wollte. Kaum zu glauben, dass diese vielseitige, im gesamten deutschsprachigen Raum oft gezeigte, international erfolgreiche und mit vielen Preisen bedachte Künstlerin erst jetzt ihre erste institutionelle Einzelausstellung in Berlin bestreitet. Im Haus am Waldsee haben wir gegenwärtig die Gelegenheit, einer faszinierenden Persönlichkeit, deren Werk als grenzüberschreitend bezeichnet werden kann, zu begegnen. Wir erleben die Malerin, Grafikerin, Bildhauerin, Fotografin und Lyrikerin als Grenzgängerin zwischen den Genres, zwischen der europäischen und fernöstlichen Kultur, die sie auf eine fast schon beiläufige und unspektakuläre Weise zu einem Ganzen verbindet. Die Farbigkeit und die Sujets ihrer Landschaftsbilder erinnern an die Farbholzschnitte von Utagawa Hiroshige und Hokusai, aber auch an die Landschaften von Ferdinand Hodler; die Köpfe und die weiblichen Gestalten an jene von Edvard Munch oder Odillon Redon. Leiko Ikemuras Œuvre speist sich aus vielen Quellen, doch es trägt die unverkennbare Handschrift der Künstlerin.
Verblüht und vertrocknet in der Vase
Was sie darstellt oder in Worte fasst, ist zugleich sehr persönlich und universell. Die Ausstellung »… und plötzlich dreht der Wind« versammelt ihre Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. Leiko Ikemura setzt sich darin mit dem Tod ihrer Mutter, mit der japanischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg und mit der Katastrophe von Fukushima auseinander. »Das Meer, das die Inseln verbindet / ist eines Tages / wütend geworden / dass es nun endlich alles satt habe«, heißt es in einem Gedicht. Die Künstlerin ist sonst eine Meisterin der leisen Töne, ihre Trauer bringt sie am deutlichsten in den unscharfen oder kontrastreichen Schwarz-Weiß-Fotografien der Blumen zum Ausdruck. Sie sehen zwar vom Weiten wie Ikebana aus, denn sie stehen in gediegenen Vasen und wirken wie mit Bedacht arrangierte Kompositionen. Wenn sie aus der Nähe betrachtet werden, merkt man auf einmal, dass die Blumen sterben, doch auch noch kurz vor dem Tod, verblüht und vertrocknet, ihre Schönheit und Würde bewahren. Leiko Ikemura hat einen Blick für Dinge, mit denen wir unseren Alltag schmücken und die wir achtlos wegwerfen, wenn sie ausgedient und keinen Nutzwert mehr haben. Indem sie die Vergänglichkeit der Blumen zum Gegenstand ihrer Fotografien macht, möchte sie diese vor dem Vergessen bewahren und ermöglicht es ihnen, wenigstens als Kunstwerk, ein langes Leben zu haben.
Muschelmädchen und Amazonen
Auch als Bildhauerin leistet Leiko Ikemura Erstaunliches: Es gelingt ihr, Motive aus ihren Gemälden in die Dreidimensionalität zu überführen. Die sich offensichtlich auf den Vulkan und höchsten Berg Japans beziehende Kleinplastik aus Terrakotta »Fuji-Face« scheint dem daneben hängenden großformatigen Gemälde entsprungen zu sein. Ein morbides Wesen, eine Mischung aus einem Mädchen und einer Muschel, liegt auf der rechten Seite auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden im Erdgeschoss des Hauses am Waldsee, eine Hand unter dem Kopf, ein Loch im Oberarm, ein Loch statt Ohr, der Unterkörper muschelhaft geöffnet. Sie sieht entrückt und verletzlich aus, in einem Traum versunken, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. »Memento Mori« heißt die Skulptur, was das Gezeigte erklärt. Doch so ganz eindeutig ist das nicht, denn es könnte sich auch um eine Metamorphose handeln: die Verwandlung eines Mädchens in eine Frau oder die Transformation eines Lebewesens in ein anderes. Raffiniert ist auch die Beschaffenheit dieser Plastik: Sie sieht zwar wie Terrakotta aus, ist in Wirklichkeit ein Bronzeguss. Doch nicht alle Protagonistinnen in Leiko Ikemuras Werk sind so schutz- und wehrlos ihrem Schicksal ausgesetzt wie das Memento-Mori-Muschelmädchen. Zu Leiko Ikemuras neuesten Arbeiten gehört eine Serie von Monotypien auf Japanpapier, in der sie sich den Amazonen zuwendet. »Das Mädchenthema war seit 30 Jahren mein Thema, aber wie verwandeln sich dann diese Figuren? Sie haben etwas Aufständisches, Kämpferisches, das bin ich auch. Sie sollen erwachsen in die Welt gehen, so wie ich mich selber fühle«, sagt die Künstlerin.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
VG Wort, VG Kunst-Bild
Leiko Ikemura
…und plötzlich dreht der Wind
Noch bis zum 17. April 2016
Haus am Waldsee – Internationale Kunst in Berlin
Argentinische Allee 30
14163 Berlin
Öffnungszeiten:
Ausstellung
Dienstag bis Sonntag, 11 – 18 Uhr
montags geschlossen
Skulpturenpark
täglich, 11 – 18 Uhr
Eintritt 7 / 5 Euro
Café »Manstein am Waldsee«
Dienstag bis Sonntag, 12 – 18 Uhr
montags geschlossen