Louise Bourgeois im Gropius Bau: Leidenschaften vergehen, Dinge bleiben bestehen
Louise Bourgeois im Gropius Bau: Leidenschaften vergehen, Dinge bleiben bestehen

Louise Bourgeois im Gropius Bau: Leidenschaften vergehen, Dinge bleiben bestehen

Die unerschöpfliche Kreativität und der Elan, mit denen Louise Bourgeois (1911–2010) ihr monumental-fragiles Werk fast bis zum Ende ihres langen Lebens gestaltete, sind einzigartig und außergewöhnlich. Bis Anfang der 1980er Jahre arbeitete sie im Verborgenen, von der Kunstwelt kaum wahrgenommen. Erst mit 71, also in einem Alter, wo andere sich zur Ruhe setzen, hatte sie ihre erste institutionelle Ausstellung im MoMa, das sie als wichtigste Vertreterin der US-amerikanischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feierte. Zum Markenzeichen der französischen Zeichnerin, Performerin und Bildhauerin, die seit 1938 in New York lebte, wurden ihre raumgreifenden Installationen, die sie seit 1991 Cells – Zellen nannte: eine Architektur der Erinnerung, bestehend aus Drahtverschlägen, Möbeln, Alltagsgegenständen, Spiegeln und Textilien, darunter Tapisserie-Resten. In der letzten Dekade ihres Lebens griff die Künstlerin zunehmend auf ihre Aussteuer zurück und fertigte aus Kissenbezügen, Knöpfen, Perlen, Bett- und Tischdecken, Unterwäsche und Kleidung, Taschen und Geschirrtüchern mehrteilige poetische Stoffbücher, Collagen und Stoffzeichnungen, die einerseits von ihrem Respekt gegenüber den Dingen zeugen, andererseits die Vergangenheit in die Gegenwart überführen, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag aufheben und der Vergänglichkeit der eigenen Existenz trotzen.

Oden an und gegen das Vergessen

Dem faszinierenden textilen Universum der Louise Bourgeois widmet sich die Ausstellung The Woven Child (Das gewebte Kind) im Gropius Bau. Anhand von 89 Exponaten aus den Jahren 1986–2010 zeigt sie die Konsequenz, mit der die Künstlerin ihre Motive zu immer größeren Installationen arrangierte, und die Stringenz ihrer Bildsprache unabhängig vom Format und dem verwendeten Material. Für ihre Skulpturen aus weichem Gewebe und Gummi oder harten Werkstoffen wie Edelstahl, Stahl, Bronze, Glas, Marmor, Leder oder Holz baute sie fast immer mehr oder wenig klaustrophobe Behausungen aus Maschendraht, Pavillons mit Wänden aus Türen oder Vitrinen, die wie Sarkophage oder Reliquiare anmuten. Aus Patchworkstoff und Tapisserien schuf sie einzelne Köpfe, Doppelköpfe und Janusköpfe, kopflose Paare mit abgetrennten Gliedmaßen oder Prothesen, Cells (Zellen) wie Spider (1998), eine Hommage an ihre Mutter, die genauso tüchtig und fürsorglich war wie eine Spinne. Ihre Kunst ist autothematisch, denn sie speist sich aus ihrer Kindheit und kreist um ihre Familie, für die sie ambivalente Gefühle hegte. Zum festen Repertoire von Louise Bourgeois gehören auch Kugeln, Kegel, Säcke und andere vaginal-phallische Formen, Knochen, Nadeln, Scheren, Garn- und Kleiderständer. Und die bereits erwähnten Haustextilien sowie persönliche alte Kleidungsstücke, aus denen sie, wie in dem titelgebenden Stoffbuch The Woven Child, der Ode à l’Oubli (Ode an das Vergessen, 2004), der Ode à la Bièvre (Ode an die Bièvre, 2007) oder Eugénie Grandet (2009) eine Art visuelle Poesie kreierte.

Nähen, Flicken, Sticken

Die Beschäftigung mit den Textilien, dem Nähen, Flicken, Sticken und Reparieren hatte für Louise Bourgeois auch eine subversive Note. Diese Tätigkeiten, die Frauen zugeschrieben wurden, galten lange Zeit als kunstunwürdig oder bestenfalls antiquiert. Indem die Französin die belächelten Techniken und Materialien in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellte, offenbarte sie auch, welches kreative Potenzial in der Handarbeit steckt und dass es eine große Kunst ist, aus gewöhnlichen und scheinbar schnell vergänglichen Dingen außergewöhnliche Werke zu gestalten, die unvergänglich wirken. Die Ausstellung im Gropius Bau erinnert an das Bühnenbild eines Spektakels, in dem die Zeit stehengeblieben ist. Die Exponate wurden so konzipiert, dass sie in einem Museum, unabhängig davon, wo es sich befindet, ohne großen Aufwand aufgestellt werden können. Sie sind ja meistens »behaust«, befinden sich in Verschlägen, also in recht robusten Schutzräumen, andere – weiche – Skulpturen wie Spiral Woman (2003) hängen einfach auf Nylonseilen von der Decke. Es scheint, dass Louise Bourgeois, die angeblich nie bei der Eröffnung ihrer Ausstellungen zugegen war, nichts dem Zufall überlassen wollte. Sie hatte sich ein eigenes mobiles Museum aufgebaut und dafür gesorgt, dass es auch nach ihrem Tod in der von ihr bestimmten Form stationär präsentiert werden konnte.

Geschlecht und Materie

Es ist auch kein Zufall, dass Familie und Sexualität zu den Hauptthemen der Künstlerin Louise Bourgeois gehören. Für die am 25. Dezember 1911 in Paris Geborene war ihr familiäres Umfeld Segen und Fluch, Inspirationsquelle und Motor der künstlerischen Arbeit. In ihren Werken setzte sie sich mit ihren Eltern, zu denen sie ein ambivalentes, zwischen Abneigung und Anerkennung schwankendes Verhältnis hatte, mit ihrer Schwester und ihrem geliebten Bruder, mit ihren beiden Cousins, die nach dem Tod ihres Onkels väterlicherseits zu Beginn des Ersten Weltkriegs in die Familie aufgenommen wurden, mit ihren drei Söhnen und ihrem Mann auseinander. Schon als Kind war sie von den widersprüchlichen Gefühlen gegenüber ihrem Elternhaus, zu dem auch eine Geliebte ihres Vaters gehörte, hin und hergerissen. Zuflucht fand sie seit ihrem zehnten Lebensjahr im Zeichnen. Weil ihre Eltern mit alten Tapisserien handelten, besaßen sie eine Werkstatt, in der diese Antiquitäten, die sich häufig in einem miserablen Zustand befanden und von ihrer Mutter in Bauernhäusern, auf Dachböden und in Scheunen aufgespürt wurden, restauriert werden mussten. Die kleine Louise fertigte Skizzen der fehlenden Gobelin-Stellen an und besserte sie mit Wolle und Seide aus. Auf Wunsch puritanischer Amerikaner, die zu den Kunden der Bourgeois-Werkstatt gehörten, bedeckte sie die Geschlechtsteile der Putti mit Blumen- und Pflanzenornamenten. Die Probleme des Geschlechts und der Materie beeinflussten ihre Kindheit, die sie – trotz Wohlstands –mitnichten als glücklich in Erinnerung behielt. Ihr Vater Louis war enttäuscht, dass sie nicht als Sohn zur Welt gekommen war und akzeptierte sie nur deshalb, weil sie ihm außerordentlich ähnelte. Ihre kränkliche Mutter Josephine, 1932 frühzeitig an den Folgen der Spanischen Grippe verstorben, tolerierte zehn Jahre lang das Verhältnis ihres Mannes mit der englischen Gouvernante Sadie Gordon Richmond. Ein stilles Drama spielte sich in den eleganten Interieurs der Schlösschen in Choisy-le-Roi und Antony bei Paris ab, hinter der Fassade der bürgerlichen Normalität entluden sich verbotene Leidenschaften. Das störte Louises Vater nicht daran, sich über Künstler – für ihn Paradebeispiele moralischer Verkommenheit – zu empören. »Meine Kindheit hörte nie auf, magisch, geheimnisvoll und dramatisch zu sein. Alle meine Arbeiten aus den letzten 50 Jahren, alle meine Themen wurden von der Kindheit inspiriert«, sagte Louise 1997.

Angst führt zur Kunst

Louise entschied sich jedoch zuerst für ein sichereres Metier: Mit 21 Jahren begann sie, an der Pariser Sorbonne Mathematik und Geometrie zu studieren. Diese emanzipierte und elegante junge Frau, die bereits mit 18 Jahren ihren Führerschein gemacht hatte und Kostüme von Coco Chanel und Sonya Delaunay trug, knüpfte auch – ihrem Vater zum Trotz – Kontakte mit den Künstlern und sympathisierte offen mit dem Kommunismus: Anfang der 1930er Jahre besuchte sie zweimal Moskau. Nachdem sie an der Geometrie das Interesse verloren hatte, wollte sie Kunst studieren, aber nicht an der Akademie, sodass sie fünf Jahre lang verschiedene Ateliers in Montparnasse und Montmartre besuchte. Fernand Léger, der ihr bildhauerisches Talent entdeckte, gestattete ihr, an seinen Kursen unentgeltlich teilzunehmen. 1936 lernte sie den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater (1907–1973) kennen, Autor eines bahnbrechenden Buchs über den Einfluss der primitiven Kunst auf die Moderne. Sie heirateten 1938 und zogen nach New York. Aus Angst vor Unfruchtbarkeit entschied sich Louise, einen Jungen mit dem Namen Michel zu adoptieren; zwei Jahre später kam ihr Sohn Jean-Louis und 1941 der letzte Sohn Alain zur Welt. Doch die treueste Begleiterin in Louises Leben war die Angst: in ihrer Kindheit die Angst vor dem Scheitern der Ehe ihrer Eltern, dann die Angst davor, die Rolle der Mutter, Ehefrau und Künstlerin nicht unter einen Hut bringen zu können, die Angst, unverstanden zu sein, zu versagen, schließlich die Angst vor der Einsamkeit, nachdem ihr Mann bereits 1973 verstorben war. Diese allgegenwärtige Angst führte sie zur Kunst.

Kleider und ihre Leute

Während andere Menschen vor der Angst kapitulieren und noch ängstlicher werden, ging Louise Bourgeois mit ihrer Angst, die sie seit ihrer Kindheit begleitete, kreativ um. Die Angst vor und um ihre Familie, der gegenüber sie eine Hassliebe empfand, spiegelt sich in ihren Kunstwerken. Das Publikum des Gewebten Kindes im Gropius Bau betritt eine geheimnisvolle und wie mit einer Patina umwobene Bühne, auf der sich das Drama und Trauma des Familienlebens abspielt. Es ist eine tragikomische und stellenweise ironische Aufführung in alten Dekorationen, denn die einzelnen, nicht chronologisch geordneten Stationen der Ausstellung beziehen sich alle auf die Vergangenheit. Die individuelle Geschichte der Louise Bourgeois ist keine Idylle (und leider auch kein Einzelfall), denn das Leben ihrer gut situierten Familie war vom Leid, Kampf, Misstrauen und Verrat geprägt. Der Ehemann betrog die Ehefrau, die Kinder rivalisierten um die Zuneigung der Eltern oder verweigerten sich ihrer Liebe. Wichtig war, dass nichts von dem nach außen dringt: Die Aufrechterhaltung der Fassade. Doch das Leben geht schnell vorbei. Was überdauert, sind alte Kleider, Möbel, verschlissene Stoffe, Türen mit abblätterndem Lack und Nippes. Diese Glanzstücke der bürgerlichen gar nicht so heilen Welt stehen jetzt in Zellen, Käfigen und Vitrinen, wo die gebändigte Vergangenheit verharrt und nur in Fragmenten erspäht werden kann. Beim Begehen und Besehen des beeindruckenden Kunstspektakels von Louise Bourgeois im Gropius Bau kann man verstehen: Menschen und Leidenschaften vergehen, ihre Kleider und Dinge bleiben viel länger bestehen.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Louise Bourgeois: The Woven Child >>>
22.07–23.10.2022
Gropius Bau
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