Marc Chagall in der SCHIRN: Bilder aus einer dunklen und lebensbedrohlichen Zeit
Marc Chagall in der SCHIRN: Bilder aus einer dunklen und lebensbedrohlichen Zeit

Marc Chagall in der SCHIRN: Bilder aus einer dunklen und lebensbedrohlichen Zeit

Schon lange haben sich die Künstler der École de Paris (Pariser Schule) keiner solchen Popularität erfreut wie in letzter Zeit. Eine Aufsehen erregende Ausstellung, die weniger bekannte Aspekte der Malerei von Marc Chagall beleuchtet, läuft noch bis zum 19. Februar unter dem Titel Die Welt in Aufruhr in der SCHIRN Kunsthalle in Frankfurt am Main. Seit dem 25. Januar ist die faszinierende und in der Tat magnetische Schau Paris Magnétique. 1905–1940 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen: mit 120 Arbeiten, darunter Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Zeitdokumente von unter anderem Sonja Delaunay, Mela Muter, Chana Orloff, Amedeo Modigliani, Rudolf Levi, Otto Freundlich, Moïse Kisling, Alice Halicka, Jacques Lipchitz und Chaïm Soutine. Eine große Retrospektive Soutines, der Menschen auf der untersten Stufe der Gesellschaft, taumelnde Landschaften und geschlachtete Tiere malte, startet am 2. September in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20 in Düsseldorf.

Die ungebrochene Popularität Marc Chagalls

Werke vieler dieser Künstler, die die europäische Moderne prägten und noch bis heute inspirierend und wie ein Publikumsmagnet wirken, sind wahre Evergreens der Kunst. Zu ihnen gehört ohne Zweifel Marc Chagall (1887–1985), dessen Gemälde und Papierarbeiten tief im kollektiven Bewusstsein verankert sind: schöne, poetische, harmonische und traumhafte Bilder aus dem jüdischen Schtetl, das Witebsk samt Umgebung in seiner Kindheit und Jugend war, in blau, rot, grün und gelb, fliegende Liebende, ein Leben in Eintracht mit der Natur, Fiedler auf den schiefen Dächern und Türmen, glückliche Menschen, Pferde, Kühe, Ziegen und Hähne, schwebende Uhren, Kerzen, Blumensträuße, Madonnen, Bauern und Rabbiner, biblische Gestalten und Zirkusszenen. Er zeigt eine wunderbare, heile Welt, die trotz Turbulenzen und Umbrüchen nicht aus dem Gleichgewicht gerät, zusammenhält, offensichtlich keine Hierarchien, Religions- und Grenzen zwischen den Spezies kennt. Zum Dauerbrenner gehören seine Lithografien, die in riesigen Stückzahlen von Kunsthändlern off- und online angeboten werden und schon für relativ kleine Summen zu haben sind, sodass sie viele gute Stuben weltweit schmücken. Chagall ist einfach omnipräsent – auch wenn manche den Namen des Künstlers nicht kennen mögen, sind seine lieblichen Bilder auf Anhieb erkennbar und seit Jahrzehnten außerordentlich begehrt.

Blick in die Ausstellung "Chagall. Welt in Aufruhr", Schirn Frankfurt am Main, Februar 2013. Foto: Urszula Usakowska-Wolff
Blick in die Ausstellung „Chagall. Welt in Aufruhr“, Schirn Frankfurt am Main, Februar 2013. Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Welt in Aufruhr lockt in die SCHIRN Publikum in Scharen

Kein Wunder, dass die Ausstellung Chagall. Welt in Aufruhr in der SCHIRN am Römerberg in Frankfurt am Main seit ihrer Eröffnung am 4. November 2022 das Publikum wie ein Magnet anzieht. Solche Menschenmassen (allein 100.000 Besucher bis Januar 2023) sind in einem Museum selten anzutreffen. Organisierte Gruppen und zahlreiche Einzelpersonen, die vor den rund 60 Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen in Scharen verharren, den mehrsprachigen Erklärungen der Guides lauschen oder das Betrachtete mehr oder weniger laut kommentieren, machen den Rundgang in den relativ kleinen Räumen nicht gerade leicht: Vor lauter Besuchern sieht man oft die Bilder nicht. Doch die in sieben Kapitel gegliederte Schau ist auch unter diesen Bedingungen einer Besichtigung wert, denn sie zeigt am Beispiel von Chagalls Werken aus den 1930er und 1940er Jahren, wie infolge des umsichgreifenden Antisemitismus, von dem er und seine Familie betroffen waren, seine Farbpalette und Motive immer düsterer und dramatischer wurden und wie Träume sich in Albträume verwandelten. Als die Lage während der deutschen Besatzung (und ihrer Kollaborateure) von Paris und Frankreich für ihn, seine Frau Bella und Tochter Ida lebensbedrohlich wurde, immigrierten sie 1941 in die USA. Die zentralen Themen von Chagalls damaligen Schaffen ist die Auseinandersetzung mit seiner jüdisch-russischen Identität, Vertreibung, Verfolgung, Einsamkeit, Verzweiflung, Verlust und Exil. Er kreiert ein neues Bildvokabular, kehrt mithilfe des Pinsels und Bleistift in seine Geburtsstadt Witebsk zurück: Inbegriff der Heimat und Sehnsuchtsort mit schwingenden und beseelten Landschaften, den er 1922 verlässt und danach nie wieder besuchen wird.

Blick in die Ausstellung "Chagall. Welt in Aufruhr" (links das Gemälde "Einsamkeit", 1933), Schirn Frankfurt am Main. Foto: Urszula Usakowska-Wolff
Blick in die Ausstellung „Chagall. Welt in Aufruhr“ (links das Gemälde „Einsamkeit“, 1933), Schirn Frankfurt am Main. Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Einsamkeit, Engelssturz, Kreuzigungen

Unter dem Einfluss der politischen Ereignisse, der Situation in Nazideutschland und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschwindet die Heiterkeit und Harmonie seiner früheren Arbeiten. Er malt und zeichnet einsame und schutzlose Menschen und Tiere in Kulissen, die Unheil verkünden. Die Ausstellung beginnt mit dem Gemälde Einsamkeit aus dem Jahr 1933, das Chagall nach der Machtergreifung Hitlers malte. Darauf ist ein Jude im weißen Gebetsmantel (Tallit) in der Pose von Christus als Schmerzensmann, der eine Thorarolle schützend in der Hand hält, dargestellt. Eine neben ihm ruhende fiedelnde Kuh versucht, ihn zu trösten, während im Hintergrund das Schtetl brennt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist ein Engel, der über den Rauchschwaden schwebt. Auch die Möglichkeit, Chagalls berühmtes apokalyptisches Großformat Engelssturz, an dem er 1923/1933/1947 arbeitete, im Original zu sehen, ist eine Reise wert: Ein roter Engel mit einem entsetzten Auge stürzt von oben rechts herunter. Sein Sturz entwickelt eine verheerende Dynamik, die alle und alles erfasst und durcheinanderwirbelt: darunter eine Madonna mit Kind und den Gekreuzigten auf der rechten Bildseite. Und wieder sorgt eine fiedelnde Kuh für ein bisschen Hoffnung über den Dächern einer verschneiten Stadt, aus der Menschen fliehen. Genauso ergreifend sind die Arbeiten aus der Serie der Kreuzigungen – darunter die Kreuzigung in Gelb (1942), wo der Künstler, auf eine für ihn typische Weise, jüdische und christliche Symbole vereint: Der Gekreuzigte trägt einen Tallit als Lendenschurz und auf dem linken Oberarm Tefillin (Gebetsriemen), sein linker Arm ist zum Teil von einer offenen Thorarolle verdeckt. Ein Engel beleuchtet die Schrift mit einer Kerze, während er den Schofar – ein liturgisches jüdisches Instrument – bläst. Die Szene in der unteren Bildmitte knüpft an die Flucht der Heilige Familie nach Ägypten an. Für solche Darstellungen erntete der Maler viel Kritik aus jüdischen Kreisen, doch er ließ sich nicht beirren, denn:

Sie haben nie verstanden, wer dieser Jesus, einer unserer liebevollsten Rabbiner, der stets für die Bedrängten eintrat, wirklich war. Sie haben ihn mit lauter Herrschaftsprädikaten bedacht. Für mich ist er das Urbild des jüdischen Märtyrers zu allen Zeiten.

Marc Chagall
Marc Chagall, Die Kreuzigung in Geld, 1942. Ausstellung "Welt in Aufruhr", Schirn Frankfurt am Main. Foto: Urszula Usakowska-Wolff
Marc Chagall, Die Kreuzigung in Geld, 1942. Ausstellung „Welt in Aufruhr“, Schirn Frankfurt am Main. Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Synagogen, Klagemauer, Kostüme, Schicksalsschläge

Zu den selten gezeigten Werken Marc Chagalls gehören Papierarbeiten, auf denen er seine Eindrücke von der Reise ins britische Mandatsgebiet Palästina (1931), darunter Innenräume von Synagogen und die Klagemauer in Jerusalem festhält. Vier Jahre später zeichnet er die Große Synagoge in der damals polnischen Stadt Wilno, ein wichtiges Dokument, denn das während des Zweiten Weltkriegs stark beschädigte Gotteshaus wurde in den 1950er Jahren von den Sowjetbehörden komplett abgerissen. Dank diesen Ausstellungsstücken lernt man einen anderen Chagall kennen: Er benutzt helle Farben, sein Stil ist sachlich, skizzenhaft und weitgehend realistisch; er konzentriert sich vor allem auf die Architektur und die Interieurs der dargestellten Kultorte. Menschen tauchen darauf überhaupt nicht oder vereinzelt auf. Eine Rarität sind auch die Kostüme, die der Künstler 1942 für das Ballett Aleko von Tschaikowski fertigte sowie seine Kostüm- und Vorhangentwürfe für Strawinskys Feuervogel von 1945. Auch persönliche Schicksalsschläge spiegeln sich in Chagalls Gemälden: Nach dem plötzlichen Tod seiner Ehefrau und Muse Bella Rosenfeld Chagall (1895–1944), die er auch früher immer wieder auf seinen Gemälden und Papierarbeiten verewigte, konnte er zuerst nichts mehr malen. Später verarbeitete er seine Trauer in janusköpfigen Porträts, wo er sein Gesicht mit dem von Bella verband. Verlust, Melancholie, Einsamkeit und die Erinnerungen an eine glückliche Zeit zu zweit sind das Thema der großformatigen Ölbilder Um sie herum, Lichter der Hochzeit (beide 1945) und Der schwarze Handschuh (1923–1948). Und Die Kuh mit dem Sonnenschirm (1946), die am Ende der Chagall-Schau in der SCHIRN hängt, zieht über den Dächern weiter. Sie nimmt die Erinnerungen, die nicht mehr so schmerzvoll zu sein scheinen, mit auf den Ausflug in eine hoffentlich bessere, gewaltfreie und friedlichere Welt.

Marc Chagall, Die Kuh mit dem Sonnenschirm, 1947. Ausstellung "Welt in Aufruhr, Schirn Frankfurt am Main. Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Chagall verließ Witebsk früh, Witebsk ihn nie

Die Ausstellung Welt in Aufruhr zeigt den Glanz und das Elend der Existenz, die so schön und unbeschwert sein könnte, wenn die Menschen, von mörderischen Ideologien angetrieben, sie nicht immer wieder in eine Hölle auf Erden verwandelten. Marc Chagall, dem ein langes Leben und ein außergewöhnliches Talent beschieden waren, zeigte die Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts in seiner Kunst. Der in einer kinderreichen, armen chassidischen Familie in Peskowatik bei Witebsk geborene Maler-Poet, wie er von der Kunstkritik häufig genannt wird, wurde zu einem der bekanntesten und gefragtesten Vertreter der Moderne, machte sich auch als Illustrator der Bibel, Bühnen- und Kostümbildner einen Namen, schuf die berühmten Chagall-Fenster in deutschen und französischen Kirchen, in der Knesset und im Hassadah-Krankenhaus in Jerusalem, trat auch als Freskenmaler in Erscheinung. Er lebte in vielen Metropolen in Europa und den USA. Doch – das zeigt auch seine Schau in der SCHIRN – hat er seine ursprüngliche Heimat zwar recht früh verlassen, sie ihn aber nie. Unabhängig von Genre, Farbpalette, heiterem oder düsterem Ausdruck, politischer oder persönlicher Lage, Stimmung oder Wohnort, trug er Witebsk immer in sich und machte daraus das zentrale Thema seines Schaffens. Witebsk – magisch, melancholisch, verklärt – war Chagalls Refugium. Ein fantastisches Gebilde, fern der Wirklichkeit und im Gegensatz zu ihr unzerstörbar: Die Welt des jüdischen Schtetls, in der sich biblische Motive mit den Wundern des Alltags verweben, manchmal auf dem Kopf stehen, manchmal schweben – und dank seiner Kunst ewig so weiterleben.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff


Chagall. Welt in Aufruhr
Kuratorin: Dr. Ilka Voermann
SCHIRN >>>
Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
04. November 2022 – 19. Februar 2023
Dienstag und Sonntag 10–19 Uhr
Mittwoch – Samstag 10–22 Uhr

YouTube. Chagall. Welt in Aufruhr. Schirn