Sie liegt fast eine Stunde lang auf den Stufen, die zur Neuen Nationalgalerie führen. Zuerst sieht man nur einen regungslosen Köper, der mit der ukrainischen Flagge bedeckt ist. Dann kommen die in einem roten Halbhandschuh steckenden Finger der rechten Hand zum Vorschein. Obwohl sonst nichts mehr geschieht, ist die Performance der ukrainischen Künstlerin Maria Kulikovska (* 1988 in der Hafenstadt Kertsch, Krim) erschütternd und von einer tiefen politischen Brisanz: Mit einfachsten Mitteln macht sie auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine, auf ihre Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, auf die Massaker und den allgegenwärtigen Terror und Tod aufmerksam. Sie zeigt auch, wie wenig die von den Menschen geschaffene Kultur gegen deren mörderischen Instinkte ausrichten kann. Der stumm vor der Architekturikone der Moderne verharrende, leblose Körper ist ein starkes Bild, das sich tief ins Gedächtnis einprägt und – hoffentlich – nicht so schnell vergessen werden kann. Zugleich verdeutlicht die Künstlerin, dass sich unter all den anonymen Kriegsopfern, den Misshandelten, Ermordeten, Verwundeten und Vergewaltigten konkrete Menschen befinden, die sie vor der Anonymität und dem Vergessen bewahren möchte.
Ein Akt des kollektiven Schmerzes
„254“ von Maria Kulikovska, die von Mittwoch, 27. April bis Mittwoch, 4. Mai 2022, täglich jeweils um 12, 15 und 17 Uhr vor der Neuen Nationalgalerie erlebt werden kann, ist die Wiederauflage ihrer nicht genehmigten Performance, die sie am 1. Juli 2014 anlässlich der Eröffnung der Manifesta 10 vor der Eremitage in Sankt Petersburg vorführte. Auch damals lag sie unter der ukrainischen Flagge stumm und reglos auf den Stufen vor dem berühmten russischen Museum, was umgehend mit ihrer Verhaftung endete. Der Titel „254“ geht auf die Nummer zurück, die Maria Kulikovska in Kiew erhielt, wohin sie nach der Krim-Annexion 2014 flüchtete und somit zu einer registrierten Geflüchteten im eigenen Land wurde. Nach der russischen Invasion musste sie die ukrainische Hauptstadt verlassen und lebt gegenwärtig in Linz. Die international agierende Multimedia-Künstlerin, aktionistische Performerin, Architektin, Forscherin und Dozentin sagt über ihre Performance vor der Neuen Nationalgalerie:
Diesmal ist dieser Akt kein Protest, sondern mehr ein Akt der Solidarität, ein Akt der Betroffenheit und des kollektiven Schmerzes, ein Symbol von Tragödie und Völkermord, die wir jeden Tag sehen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Maria Kulikovska
Performance „254“
Neue Nationalgalerie >>>
Potsdamer Str. 50, 10785 Berlin
bis 4. Mai 2022
jeweils um 12, 15 und 17 Uhr