Mario Lischewsky ǀ Jürgen Jaehnert: Seelenbilder und stimulierende Skulpturen
Mario Lischewsky ǀ Jürgen Jaehnert: Seelenbilder und stimulierende Skulpturen

Mario Lischewsky ǀ Jürgen Jaehnert: Seelenbilder und stimulierende Skulpturen

Es ist fast unglaublich, dass sich Mario Lischewsky und Jürgen Jaehnert erst im Vorfeld ihrer aktuellen Doppelschau kennengelernt haben, denn ihre Kunst weist so viele Gemeinsamkeiten und Parallelen auf, dass der Eindruck entsteht, als führten sie schon seit langer Zeit einen gegenseitig befruchtenden, kreativen Dialog. Das Verbindende ist nicht nur, dass sie ihre Arbeiten mit großer Sorgfalt, Präzision und Perfektion ausführen und ein sicheres Gefühl für das Material, für die gestalterischen und inhaltlichen Eigenschaften haben, sondern dass sie beide wissen, wie man ansprechende und nachvollziehbare Kunstwerke schafft, weil sie über eine langjährige Erfahrung als Hochschullehrer verfügen. Und obwohl die Art und Weise, mit der sie ans Werk gehen, unterschiedlich ist, scheinen die in der Galerie 100 ausgestellten konkreten, monochromen und kleinformatigen Skulpturen von Jürgen Jaehnert eine verblüffende Ergänzung von Mario Lischewskys expressiven und farbenfrohen großformatigen Gemälden zu sein. Es entsteht der Eindruck, dass die Objekte manche Motive der Bilder aufgreifen und sie in die Dreidimensionalität überführen, wodurch ein starker räumlicher Effekt entsteht.

Marion Lorenz (links), Leiterin der Galerie 100, Jürgen Jaehnert, Mario Lischewsky und Henriette Jüttner-Uhlich, Flötistin. Ausstellungseröffnung am 22.06.2022. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Marion Lorenz (links), Leiterin der Galerie 100, Jürgen Jaehnert, Mario Lischewsky und Henriette Jüttner-Uhlich, Flötistin. Ausstellungseröffnung am 22.06.2022. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Jürgen Jaehnert sieht in das Material hinein

Jürgen Jaehnert, ein gebürtiger Berliner, machte nach dem Abitur eine Maschinenschlosserlehre und studierte dann Design in Berlin und an der legendären, von Max Bill gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm, die er als Diplom-Designer verließ. Von 1970 bis 1981 arbeitete er als Designer in der Nixdorf Computer AG Paderborn, in der Audi NSU Auto Union AG Ingolstadt und freischaffend. Von 1981 bis 2007, also 26 Jahre lang, war er Professor für Industrial Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Fachgebiete Dreidimensionales Gestalten, Entwerfen und Gestaltentwicklung. Seit 2012 lebt und arbeitet er als freischaffender Bildhauer in Berlin und macht endlich das, wofür er in seinem Berufsleben wenig Zeit hatte: »spannende plastische Objekte«, die, wie er sagt, »das ästhetische Empfinden ansprechen und in harmonisierender oder kontrastierender Weise stimulierend wirken sollen.« Dabei lässt sich Jürgen Jaehnert von der Natur und ihrer Formenvielfalt, von der Technik und der Geometrie inspirieren und schafft raffinierte, dynamisch geformte Skulpturen, die auf extra dafür entwickelten, schwarzen oder weißen Kegeln stehen. Der Vitrinenschrank, der sich in seinem Atelier befindet, sieht wie eine Wunderkammer aus und versammelt Dinge, denen er in seiner Kunst eine Referenz erweist: Muscheln unterschiedlicher Größe, Seeigel, Seesterne, Steine, Fossilien, Glaskugeln, schöne Gläser und Vasen und andere schöne Gegenstände.

Prof. Jürgen Jaehnert in seinem Berliner Atelier, 8.06.2022. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Prof. Jürgen Jaehnert in seinem Berliner Atelier, 8.06.2022. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Jürgen Jaehnerts Arbeitsprozess zeichnet sich durch Stringenz und Präzision aus: Vor der Ausführung eines Objekts erarbeitet er eine genaue Vorstellung von dessen Endform und überlegt sich, welcher Stoff dafür am geeignetsten ist, was er »Hineinsehen in das Material« nennt. Seine Arbeitsweise ist überwiegend skulpturierend, das heißt, er trägt das Material ab, aber er trägt es manchmal auch auf. Seine monochromen biomorphen Objekte fertigt der Bildhauer aus Ton, Gips, Hartschäumen und anderen Werkstoffen. So entstehen auch die Originale für seine Bronze-, Aluminium- und Kunstharzgüsse. Obwohl er erst 2015 angefangen hat, seine Kunst öffentlich zu präsentieren, hat er seitdem an vielen Gruppenausstellungen in Berlin, darunter zuletzt im Haus der Kulturen der Welt, teilgenommen. Viele seiner Objekte sind Variationen zum Thema unendliche Schleife, von der auch andere Künstler wie Max Bill fasziniert waren und die auch im Werk der zeitgenössischen Künstler – wie zum Beispiel Michelangelo Pistoletto – von großer Bedeutung sind. Seine monochromen biomorphen Objekte fertigt der Bildhauer aus Ton, Gips, Hartschäumen und anderen Werkstoffen. So entstehen auch die Originale für seine Bronze-, Aluminium- und Kunstharzgüsse. Was in Jaehnerts Objekten auffällt, ist das Spiel zwischen konkaven und konvexen Flächen, zwischen Außen und Innen, zwischen Leere und Volumen. Er veranschaulicht die Dualität der Formen, die sowohl vollkommen als auch unvollkommen, einzigartig und wiederholbar, rund oder eckig, endlich und unendlich sind. Ihre Dynamik kommt voll und ganz zur Geltung, wenn sie von den Betrachtenden umrundet werden. Dann können auch sie in die 15 ausgestellten Werke hineinsehen und zum Beispiel einen Stein entdecken, oder durch die Öffnungen einen verblüffenden Ausschnitt der Umgebung wahrnehmen. Jürgen Jaehnerts perfektionistische Arbeiten leben von der Bewegung, verändern sich bei jedem Schritt, scheinen zu schwingen oder zu rotieren. Manche erinnern an einen verharrenden Wirbel, der Kräfte sammelt, bevor er wieder mit voller Wucht zuschlägt. Seine Objekte sind statisch, wirken aber bei der Begehung als seien sie kinetisch. Ihre Oberflächen sind selten glatt, häufig porös oder vom Künstler mit Schraffuren versehen, wodurch er ihnen eine zusätzliche Plastizität verleiht.

Mario Lischewsky macht innere Kräfte sichtbar

Auch die Pastellbilder, die Mario Lischewsky in den letzten drei Jahren auf Karton und Leinwand gemalt hat, entfalten eine starke räumliche Wirkung. Darauf sind schwingende, auf den ersten Blick abstrakte Figuren zu sehen. Beim genauen Betrachten fallen überraschende Details auf: Landschaften, die wie ein weiblicher Rückenakt anmuten, Frauen-, Männer und Kinderkonterfeis, Babys, Augen, die auch Brüste sein könnten, und die ausschwärmen und zu explodieren scheinen. Mario nennt sie »Seelenbilder«, in denen er »innere Kräfte, also seelische Prozesse sichtbar machen möchte.« Die meisten davon entstanden während der Corona-Pandemie und des Lockdowns, als der Künstler merkte, wie einsam der Mensch ist, wenn er gezwungen wird, auf zwischenmenschliche Kontakte zu verzichten und bestenfalls mit seinen Bekannten, Studenten und Schülern mittels Zoom kommunizieren kann. Denn auch Mario Lischewsky ist ein leidenschaftlicher und beliebter Lehrer. 1974 in der bulgarischen Hauptstadt Sofia geboren, studierte er dort von 1995-2001 an der Nationalen Kunstakademie und absolvierte sein Studium als MA in Malerei und Diplom-Pädagoge. Seit 2006 ist er freiberuflich als Maler und Kunstpädagoge in Berlin, seit 2008 als Lehrbeauftragter im Fachbereich Gestaltung und Kultur an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft tätig. Darüber hinaus arbeitet er seit 2018 als Kunstlehrer an der Freien Waldorfschule Kleinmachnow.

Mario Lischewsky, Nach neuen Meeren, 2022, Ölpastell auf Leinwand, und Reichtum, 2021, Ölpastell auf Karton. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Mario Lischewsky, Nach neuen Meeren, 2022, Ölpastell auf Leinwand, und Reichtum, 2021, Ölpastell auf Karton. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Denjenigen, die Mario Lischewskys Malerei kennen, denn er hat in der Galerie 100 vor elf Jahren seine zum Teil monumentalen Gemälde ausgestellt, auch andere Kunsthäuser in und in der Nähe von Berlin zeigten sie wiederholt, wird nicht entgangen sein, dass die jetzt hier versammelten 29 Pastellbilder sich zu einer neuen Werkgruppe zusammenfügen. Früher stand die mehr oder weniger realistisch gemalte menschliche Figur in Interaktion mit anderen menschlichen Figuren im Mittelpunkt seines Interesses. Um sie auf Leinwand oder seltener auf Karton zu bannen, benutzte Lischewsky Acrylfarben oder Mischtechniken. Auf seinen Bildern waren Ausgegrenzte oder Außenseiter: Flüchtlinge, Artisten, darunter Seiltänzer und Clowns, aber auch Liebespaare, Familien, Feiernde und spielende Kinder und Erwachsene zu sehen. Die Stimmung seiner mit ausladender Geste gemalten Bilder war einerseits gedämpft, denn sie handelten von einer Welt vor oder nach der Katastrophe; sie führten andererseits vor, dass der Mensch, auch in bedrohlichen Zeiten, auf den Beistand anderer Menschen zählen kann. Die Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft, Melancholie und Heiterkeit, Optimismus und Lebensfreude trotz widriger Umstände waren Themen und Motive, die sich durch sein Bilduniversum zogen. Parallel dazu schuf er Bilder, in denen er mit Grautönen experimentierte oder nur die Nichtfarbe Schwarz benutzte. Die Menschenfiguren lösten sich im Laufe der Zeit immer mehr auf, verschmolzen mit den Wolken oder Nebelschwaden zu einer Einheit.

Mario Lischewsky, Malerei, Galerie 100. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Mario Lischewsky, Malerei, Galerie 100. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Jetzt lässt sich Mario Lischewsky von seiner inneren Welt inspirieren, die er auf unverkennbare Weise nach außen kehrt. Als er vor vier Jahren in eine neue Wohnung zog, konnte er aus dem Fenster viele Bäume und auch sonst viel Grün sehen. Der Künstler hatte den Eindruck, dass ihn die Natur anschaute – und verinnerlichte ihren Blick. Er begann, von seinen Emotionen, Gefühlen und Regungen angefeuert, intuitive, expressive, leuchtende und schwingende Bilder zu malen. Sie sind eine Hymne auf die Schönheit des Lebens, das, wie ein bunter Reigen, ständig in Bewegung und außerordentlich wandlungsfähig ist. In der Farbgebung und Gestaltung erinnern sie an die Gemälde der schwedischen Malerin Hilma af Klint.

Das Leben ist für Mario eine ständige Metamorphose, ein Ineinander gehen von Eindrücken, Erfahrungen und Ideen: Wenn die Menschen geneigt sind, ihr eigenes Sein und das Sein im Ganzen als komplementär zu betrachten, werden sie die in ihrer Seele entstehenden oder gespeicherten Bilder angemessen deuten und sie mit anderen und dem Universum teilen. Fast beiläufig zeigt Mario Lischewsky die Wechselwirkungen zwischen der Natur und den Menschen, dem Individuum und der Gruppe, zwischen Erotik und Körperlosigkeit. Seine dynamischen und zugleich besinnlichen Bilder loten die Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration aus.

Die gemeinsame Ausstellung des Malers Mario Lischewsky und des Bildhauers Jürgen Jaehnert in der Galerie 100 ist ein geistiges und sinnliches Erlebnis, das lange in Erinnerung bleibt. Die beiden so unterschiedlichen Künstler haben vieles gemeinsam: Sie zeigen die Schönheit, Zerbrechlichkeit und zugleich auch die Fülle des Seins und all der Dinge, die es bereichern und Freude bescheren. Und sie regen dazu an, unsere kleine und große Welt, auch wenn sie nicht immer beglückend oder perfekt ist, mit neugierigen und wohlwollenden Augen zu sehen.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Eröffnung der Ausstellung "Mario Lischewsky, Malerei ǀ Jürgen Jaehnert, Skulptur", 22.06.2022, Galerie 100. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Eröffnung der Ausstellung „Mario Lischewsky, Malerei ǀ Jürgen Jaehnert, Skulptur“, 22.06.2022, Galerie 100. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Mario Lischewsky Malerei
Jürgen Jaehnert Skulptur
23. Juni bis 14. August 2022
GALERIE 100
Konrad-Wolf-Straße 99, 13055 Berlin
Di – Fr 10 – 18 Uhr, So 14 –18 Uhr, feiertags geschlossen
Eintritt frei