Für die Ausstellung »atme« im Bürgerhaus Grünau hat Mario Lischewsky, der 1976 in Sofia geboren wurde und seit 2001 in Berlin lebt, 18 Bilder ausgewählt, wovon beinahe die Hälfte aus dem Jahr 2016 stammt und zum ersten Mal gezeigt wird. Diese größtenteils monochromen oder in der Technik der Grisaille gefertigten Arbeiten sind für den Künstler »Ausdruck höchster Expressivität«. Durch die starken Kontraste wird die Dramatik und Dynamik des Dargestellten sichtbar, die Bilder haben eine außergewöhnliche körperliche Präsenz, der sich die Betrachtenden nicht entziehen können. Die Ausstellung »atme« wurde am 1. Juli 2016, um 18 Uhr eröffnet, und war ein voller Erfolg: Über 100 Menschen drängten sich im Bürgerhaus Grünau, um die aufregenden und perfekt gemalten Bilder von Mario Lischewsky zu sehen und mit dem Künstler zu sprechen.
Fragile Balance der Existenz
Mario Lischewsky ist ein Maler, der die Gegensätze liebt. Das menschliche Leben, die Leichtigkeit und Schwere des Seins, und eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, stehen im Mittelpunkt seiner Kunst. Seine Ölgemälde und Zeichnungen sind zugleich statisch und dynamisch, sie drücken die fragile Balance der Existenz aus. Diese zum Teil heiter anmutenden Bilder wirken beim genauen Hinsehen unheimlich und beunruhigend: Die Menschen haben kaum erkennbare Gesichtszüge, ihre Bewegungen sind eingefroren. Die Kontraste zwischen den hellen und dunklen, matten und leuchtenden Farben verstärken den Eindruck, dass Heiterkeit sich im nächsten Augenblick in Trübsal verwandeln kann.
Genreszenen und Katastrophen
»Die Bewegung mit der Statik zu verbinden ist ein Widerspruch, der zu unserer Zeit gut passt«, sagt Mario. »Ich greife Themen auf, die in der Luft liegen, und versuche, das Wesentliche aus der Situation, in der sich Menschen befinden, herauszuholen. Ich typisiere die Personen nicht einzeln, sondern jede Person typisiert die Person nebenan. Wie im Theater, wo die Hauptrolle von den Nebenrollen lebt. Genauso ist es mit den Farben: Man kann eine Farbe nur durch die Nachbarschaft zu einer anderen Farbe zum Leuchten bringen.« Tatsächlich fühlt man sich beim Betrachten der Bilder an eine Bühne erinnert, auf der Mario Lischewsky idyllische Genreszenen oder Momentaufnahmen einer Welt unmittelbar vor oder nach der Katastrophe ins Werk setzt. In seinem umfangreichen und vielfältigen Oeuvre tauchen immer wieder Spieler, Gaukler, Clowns, Seiltänzer, Liebesdienerinnen, schaukelnde Mädchen und andere Lebenskünstler sowie Hunde, Affen und Vögel auf, wobei er sich häufig von Kunstgeschichte, Literatur, Film, Musik und vor allem von der Wirklichkeit inspirieren lässt. Deshalb finden Ereignisse, die die Welt erschüttern oder verändern, einen Ausdruck in seiner Malerei. Als Reaktion auf den atomaren Super-Gau in Fukushima 2011 malte er etliche Bilder, darunter »Leben, leben dennoch«, auf dem Menschen wie Schemen herumirren, sich aneinander klammern, in ihrer Nähe Trost suchen und wohl auch finden. In solchen Situationen, meint der Künstler, zeigen die Menschen ihre Größe, denn sie sind »ein wahres Gerüst« füreinander. In letzter Zeit widmet sich Mario Lischewsky verstärkt aktuellen Themen: Flucht und Migration sind Sujets seiner neuesten Bilder.
Die Fläche zwischen vier Ecken
Beim Malen denkt Mario an seine Freunde, die seine geistigen Modelle sind. Er ist häufig überrascht, dass Personen, die er kennt, plötzlich wie von allein auf der Leinwand erscheinen. Manchmal ist auch der Künstler auf seinen Bildern zu sehen. »Mir geht es vor allen darum, die Malerei zu personalisieren und ein Bild richtig zu gestalten«, sagt er. »Dafür habe ich eine zwischen vier Ecken liegende Fläche zur Verfügung, die der Gestaltung und Visualisierung, also der Bildwerdung einer Idee dient. In diesen vier Ecken ist es nicht unwichtig, wie eine Figur positioniert wird. Komposition, Farbe, Proportionen: Diese klassischen Sachen kommen auch im Leben viel häufiger vor, als wir denken. Und die Malerei ist eine zweidimensionale Übersetzung von alldem, was wir erleben. Immer geschieht rundherum etwas, und ich versuche, daraus ein Bild zu machen, um die Linie, Farbe und insgesamt die ganze Komposition ständig zu entwickeln. Ein Bild muss Hand und Fuß haben, solide sein und etwas länger als einen Moment dauern. Wenn man mit offenen Augen die Welt betrachtet, kann man ein Künstler werden. Überall gibt es diese Vielfalt, man muss sich über sie freuen und dann ist das bereichernd.«
Leuchtende Augen
Mario Lischewsky, der Malerei und Kunstpädagogik an der Nationalen Kunstakademie in Sofia studierte, hat ein gutes Gespür für Formen und Farben. Seine Gemälde sehen aus, als hätte er sie mit Licht gemalt. Einen besonderen Platz in seinem Schaffen nimmt die 2005 begonnene Serie »Illumination« ein, in der er mit den Nichtfarben schwarz und weiß experimentiert. »Illumination«, was sowohl Beleuchtung als auch Erleuchtung bedeutet, besteht aus monochromen schwarzen Porträts von Marios Verwandten, seiner Freunde oder Personen, die, wie Angela Merkel, eine große Rolle in der Politik spielen und die er nach Art einer Mater Dolorosa malte. Diese Bildnisse, aus denen nur die Augen weiß heraus leuchten, wirken fast schon skulptural, sind außerordentlich dynamisch und lebendig.
Mythologie und Migration
Für die Ausstellung »atme« im Bürgerhaus Grünau hat Mario Lischewsky 18 Bilder ausgewählt, wovon beinahe die Hälfte aus dem Jahr 2016 stammt und hier zum ersten Mal gezeigt wird. Das Thema der Schau ist unverkennbar: Sie stellt mehr oder weniger metaphorisch Ereignisse dar, welche die heutige Zeit prägen. Es geht um Flucht, Fluchtwege, Migration und eine unsichere Zukunft in Ländern, die keine gelobten sind, sein können oder wollen. Es geht um die Last der Aufgaben und Probleme, die selbst ein Atlas nicht schultern kann, denn sie überfordern und erdrücken ihn. Um zu veranschaulichen, was den Künstler bewegt, suchte er für seine Bilder Titel aus, die sich auf Mythologie und biblische Geschichten beziehen, doch Gegenwärtiges beinhalten. So ist der Turm zu Babel in »Babylon« nur noch ein Gerüst, von einer Feuerbrunst erfasst und von einer riesigen Rauchwolke umgeben. Die Menschen im »Exodus« fliehen vor etwas: einer Flut, vielleicht vor einem Brand, und versuchen, sich mit vereinten Kräften zu retten. Im »Exit« scheinen sie zu jubeln und vor Freude zu taumeln; über ihnen flattert eine Taube. Es bleibt offen, ob sie das Symbol des Friedens oder des Heiligen Geistes ist. In der »Götterdämmerung« umkreist eine ausgelassene Männergruppe eine nackte Schönheit, doch die Feiernden scheinen sich in Luft aufzulösen, was sie in ihrem Rausch nicht merken. Einen direkten Bezug zur Gegenwart haben die Bilder »Migration« und »Ankunft«. Ein Migrant, nur mit einem T-Shirt bekleidet, das er über den Kopf gezogen hat, tastet sich blindlings vor, nicht weit von ihm eine weiße Taube. Ist sie etwa das Sinnbild eines neuen, friedlichen Lebens? In der »Ankunft« gibt es zweierlei zu sehen: auf der linken Seite ein Boot, das sich einem Strand nähert, von wo aus es einige wenige Menschen beobachten, auf der rechten Seite ein großes Schiff, vor dem sich fahnenschwenkende Massen versammelt haben.
Leidenschaft und Perfektion
Abgesehen von drei Bildern (»Migration«, »Babylon« und »Für Elise«) wurden alle anderen im Bürgerhaus Grünau ausgestellten Arbeiten von Mario Lischewsky entweder monochrom (»Illumination«, »Hymne« und »Anthem«) oder in der Technik der Grisaille gemalt. Diese größtenteils dunklen Bilder sind für den Künstler »Ausdruck höchster Expressivität.« Durch die starken Kontraste wird die Dramatik und Dynamik des Dargestellten sichtbar, die Bilder haben eine außergewöhnliche körperliche Präsenz, der sich die Betrachtenden nicht entziehen können. Man merkt, mit welcher Wucht, Leidenschaft und Perfektion Mario Lischewsky seine Werke fertigt. In der heutigen, mit unzähligen bunten Bildern überfluteten Welt, sind seine Monochromien und Grisaillen eine Wohltat für die Augen. Die Titel seiner Arbeiten sind manchmal mehrdeutig oder subversiv. »Gravitation« zeigt ein Paar, das sich in einer ungewöhnlichen Situation befindet: Die Frau sitzt auf einer Schaukel, die über dem Kopf des Mannes schwingt, sodass er den Sitz mit seinen Händen abstützen muss. »Surprise« wirkt schon fast wie eine häusliche Szene, wären da nicht der nur mit einem Hut bekleidete Mann und die Nackte, die ein Geschenk auspackt. Was für eine Überraschung steckt in dem Päckchen? Ist »Für Elise« eine Hommage an Beethovens Klavierstück oder ist Elise die Künstlerin, welche auf der Mole eine Seelandschaft malt? Und beim Betrachten des Bildes »Staubmacher« sieht man, dass der Mensch offensichtlich ein Lebenwesen ist, das viel Staub aufwirbelt, um sich dann aus dem Staub zu machen.
Atme ist eine Hymne
»Atme« – diesen Titel wählte Mario Lischewsky für seine Personale im Bürgerhaus Grünau. Atme ist ein Imperativ, doch in diesem Fall ohne Ausrufezeichen. Vielleicht ist es eine Ermunterung dazu, auch in schweren Zeiten den Atem nicht stocken zu lassen. Denn nach jeder Götterdämmerung kommt etwas Neues, die Götter sterben, um einer anderen, hoffentlich besseren Welt Platz zu machen. So ist Marios Kunst auch eine Hymne auf das Leben, ein zartes Pflänzchen, das die Kickboxerin Sophie Bortolon in ihren Boxhandschuhen hält.
Durch die inhaltliche und technische Vielseitigkeit regen Mario Lischewskys meisterhaft gemalten Bilder zum Nachdenken an und prägen sich tief ins Gedächtnis ein. Sie verweilen lange in der Erinnerung, nicht nur deshalb, weil sie so schön sind.
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Fotos © Mario Lischewsky, Urszula Usakowska-Wolff