Die von Thomas Gust und Ana Druga gegründete Galerie BUCHKUNST gibt es erst seit dem 9. September 2021, doch in der kurzen Zeit hat sie sich zu einem beliebten Treffpunkt all jener entwickelt, die anspruchsvolle klassische und zeitgenössische Fotografie sehen oder erstehen möchten. Die kleine und feine Location in der Oranienburger Straße unweit der Neuen Synagoge dient auch als Showroom des gleichnamigen Verlags, in dem raffiniert gestaltete Fotobücher in ungewöhnlichen Formaten publiziert werden. Der Blickfänger der Galerie ist der kegelförmige Kronleuchter, der direkt über den Köpfen des Publikums zu schweben scheint und am Abend auch von außen nicht zu übersehen ist. Ein solches Ambiente garantiert aufregende und kommunikative Kunstmomente und sorgt dafür, dass bei jeder Vernissage die Galerie aus allen Nähten platzt. Nachdem in der BUCHKUNST bereits die Fotografien von Michael Wesely, Florian Bachmeier (und die Musik dazu von Florian Reinhardt), Ruslan Hrushchak, Thomas Gust & Ana Druga, Thomas Hoepker, Klavdij Sluban und Harald Hauswald & Jindřich Štreit vorgestellt wurden, können dort jetzt die fotografischen Skizzen von Michael Wolf (1954–2019) zu seiner Serie »Architecture of Density« bewundert werden.
Metaphern der Ortlosigkeit
Michael Wolf, am 30. Juli 1954 in München geboren, wuchs in den USA, Deutschland und Kanada auf. Er studierte unter anderem an der Folkwang-Hochschule in Essen, war Stern-Fotoreporter und seit 2003 freiberuflicher Fotograf. Ungebremste Urbanisierung und ihre Folgen war eines seiner Hauptthemen. Weil er seit 1994 vorwiegend in Hongkong, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt wohnte, wurde sie zur Protagonistin seiner bekanntesten Serien und Installationen: »Architecture of Density« (2003-2014), »100 x 100« (2006) und »Informal Solutions« (2003-2018). Mit seinen Fototableaus und außergewöhnlichen Architekturansichten gelang Michael Wolf der internationale Durchbruch. Seine oft prämierten und weltweit ausgestellten Arbeiten, von denen viele zu Ikonen aufstiegen, sind Sinnbilder des urbanen Lebens, das immer enger, uniformer und trostloser wird. Was auf den ersten Blick wie bunte geometrische Abstraktion aussieht, entpuppt sich auf den zweiten als Fragmente der Hochhausfassaden, die sich nur durch den Farbanstricht, die dadurch entstandenen Muster und Strukturen unterscheiden, wodurch der Eindruck der Serialität und der unendlichen Ausdehnung entsteht. Er wird dadurch verstärkt, dass Michael Wolf seine Panoramen der Hongkonger Betonkerker auf horizontale und vertikale Streifen reduziert, die, losgelöst von der Umgebung, von Himmel und Erde, nichts über ihre faktische Topografie aussagen. Es sind Metaphern der Ortlosigkeit, die, aus der Nähe betrachtet, wie horrende Gebilde aus Magazinbeuten anmuten.
Ein Fries aus 35 Scouts
Zur Popularisierung des Meisters der doppelbödigen und subversiven urbanen Fotografie in Berlin haben die Galerie- und Verlagsgründer Thomas Gust und Ana Druga bereits in der Vergangenheit beigetragen. Ihnen ist es zu verdanken, dass Michael Wolfs grandiose Ausstellung »Life in Cities«, deren Eröffnung er leider nicht mehr erlebte (er starb plötzlich am 24. April 2019 in seinem Haus auf der Insel Cheung Chau in Hongkong), im Sommer 2019 in der Urania gezeigt werden konnte. Es war die erste Präsentation seines Œuvres in Berlin. Die aktuelle Schau in der BUCHKUNST unter dem Titel »Architecture of Density Scouts«, zustande gekommen in Zusammenarbeit mit Barbara Wolf, Vorsitzende der Michael Wolf Estate, zeigt Scouts, kleinformatige fotografische Skizzen, die ihr Mann während seiner Langzeitstudie zur »Architecture of Density« fertigte. 35 davon säumen die Galeriewände. Aus der Entfernung sehen sie wie ein Fries aus mehrteiligem, unterschiedlich gemustertem Gewebe aus. Erst wenn man sich den einzelnen Scouts nähert, sind darauf Fassaden mit winzigen Fenstern, verglasten Balkonen, Außengeräte für Klimaanlagen, trocknende Wäsche, Topfpflanzen, manchmal auch Gerüste und Abdeckplanen erkennbar.
Ästhetisch, sozialkritisch und politisch
Diese Bilder spiegeln offensichtlich die Geometrie der Großstadt, ihre Ästhetik, Rhythmik und Struktur, doch in Wirklichkeit veranschaulichen sie die enorme Dichte der Architektur in den Betonwüsten, in denen Großstadtmenschen ihr Leben fristen. Sie fordern das Publikum heraus, die Fotografien genauer zu betrachten, um sich Gedanken über die Enge der Behausungen zu machen, über das Verschwinden des Individuums in der Masse, welche, in winzigen Zellen kaserniert, die ganze Energie darauf verwendet, ihre Existenz unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen zu meistern. Damit voll beschäftigt, haben die Insassen der Betonkerker keine Zeit und Kraft, Antworten darauf zu finden, wer an diesen Zuständen die Schuld trägt und wer davon profitiert. Michael Wolfs Fotografien haben eine sozialkritische Komponente und sind politisch, auch wenn das nicht auf Anhieb auffällt.
Urbanisierung in Zeiten der Globalisierung
Michael Wolf war ein Fotograf und später auch ein Installationskünstler, der immer in Serien arbeitete und sie, neben Hongkong, auch den Metropolen Tokio, Chicago und Paris widmete. Er publizierte über 30 Bücher, darunter internationale Bestseller wie, »Tokyo Compression«, »A Series of Unfortunate Events«. 2022 brachte der Verlag BUCHKUNST eine Neuauflage der »Architecture of Density« heraus, die ursprünglich 2012 bei Peperoni Book Berlin von Hannes Wanderer erschien. Die originale Bildsequenz wurde mit neun zum ersten Mal veröffentlichten Aufnahmen ergänzt. Das Buch im Querformat 31 x 24 cm liegt jetzt in der Ausstellung aus und gibt einen fundierten Einblick in die »Architecture of Density Hong Kong«, wie sie Michael Wolf auf seine unverkennbare Weise in Szene setzte. Im Nachwort schreibt Marc Feustel, in Paris lebender unabhängiger Kurator, Schriftsteller und Verleger: »Natürlich handelt ›Architecture of Density‹ von Hongkong, aber es ist auch eine Erkundung, vielleicht sogar eine Herausforderung für das globale städtische Projekt, für unsere scheinbar unaufhaltsame Besessenheit von Urbanisierung, die nicht einmal die globale Pandemie zu Fall bringen konnte. Wenn ich mir dieses Bild heute, da Michael Wolf nicht mehr lebt, ansehe, offenbart sich mir die Frage, die er hinterlassen hat: Welche Art von Leben wollen wir in den Städten?«
Was schon lange im Gange ist
Sowohl die Bilder an der Wand als auch die im Fotoband geben eine Vorahnung dessen, was uns auch in unserem Teil der Welt bald bevorsteht oder schon lange im Gange ist Michael Wolf war zwar kein Prophet, aber ein genauer Beobachter und ein Künstler, der wie ein Soziologe mit dem ihm zur Verfügung stehenden Medium Fotografie die unaufhaltsame Urbanisierung, ihre Auswirkungen auf die Städte und den auf immer enger werdenden Raum lebenden Menschen registrierte. Seine Serie »Architecture of Density« wirkt sehr malerisch, sie erinnert an die legendäre, 445 Jahre alte und 19 Meter lange Vicke-Schorler-Rolle, eine gezeichnete, mit Wasserfarben in Rot, Blau und Grün kolorierte Stadtansicht von Rostock, oder an die abstrakten Kompositionen von Piet Mondrian wie zum Beispiel »New York City I« (1942) und » Brodway Boogie Woogie« (1942–1943) . Michael Wolfs Aufnahmen der Hochhausfassaden sind faszinierend, sie fügen sich zu dekorativen Mustern aus dicht aneinander gepressten Fenstern und Balkonen zusammen, die aus der Ferne wie Ornamente in heiteren Farben aussehen. Doch die subtile Botschaft, die in diesen fotografischen Meisterwerken enthalten ist, lautet: Traut den Fassaden nicht, blickt dahinter!
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Michael Wolf
Architecture of Density
12. Mai–22. Juli 2023
Galerie Buchkunst Berlin
Oranienburger Straße 27, 10117 Berlin
Do–Sa, 14–18 Uhr & nach Vereinbarung
Eintritt frei
Michael Wolf – Architecture Of Density Hong Kong
Herausgeber | Editor: Barbara Wolf, Ana Druga, Thomas Gust
128 Seiten, 67 Fotografien, Deutsch / Englisch
ISBN 978-3-9819805-1-6
€ 48,00 inkl. MwSt.