Michelangelo Pistoletto ist einer der bekanntesten europäischen Künstler, ein kreativer und quirliger Geist, dem es von Anfang an darum ging, die Grenzen der Wahrnehmung zu überwinden, die Kunst mit dem Alltag zu verflechten und somit den erweiterten Kunstbegriff zu praktizieren.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Schon früh als Ikone der Postmoderne gefeiert, beeinflusst er bis heute mit seinen Werken und Schriften den italienischen und internationalen kunstpolitischen Diskurs. Er plädiert für eine Erneuerung der Gesellschaft und Politik durch die Einführung eines »Menschentheismus« und einer »Demopraxie« und glaubt, dass auf diese Weise die Zukunft der Menschheit gerettet werden kann. Zum 85. Geburtstag schenkte das Italienische Kulturinstitut Berlin dem hochgeschätzten Künstler und Denker die Retrospektive »Michelangelo Pistoletto und Cittadellarte – Spiegelungen und Widerspiegelungen«, in der eine Auswahl seiner Arbeiten aus den letzten 50 Jahren zu sehen ist. Gezeigt werden – neben seinen frühen Selbstporträts – die »Quadri specchianti« (Spiegelbilder), welche ihn weltweit bekannt machten, ferner die »Oggetti in meno« (Minusobjekte) und die noch immer beeindruckende »Venere degli stracci« (Lumpenvenus, 1967). Diese kann, neben dem Spiegeltisch »Mar Mediterraneo« (2005) und der Bodeninstallation »Terzo paradiso« (Das Dritte Paradies, 2018), in der Italienischen Botschaft bewundert werden. Einer der Schwerpunkte der Schau, die im Rahmen des Projekts »DediKa« (abgeleitet vom »dedica« – Widmung) stattfindet, ist eine umfangreiche Bild- und Textdokumentation über die 1996 in einer stillgelegten Textilfabrik bei Biella gegründete Cittadellarte – Fondazione Pistoletto: ein interdisziplinäres, multimediales Zentrum und ein Labor, in dem die genreübergreifende Kreativität gefördert und erforscht wird und innovative Ideen aus den Bereichen Kunst, Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Kommunikation, Wirtschaft und Spiritualität entwickelt und in der Praxis umgesetzt werden.
Charismatisch, charmant & wortgewandt
Michelangelo Pistoletto ist eine imposante Erscheinung. Ganz in schwarz mit einem weißen Bart und einem Panamahut sieht er wie ein Filmstar aus. Der Grandseigneur der italienischen Kunst, den alle mit »Maestro« ansprechen und der eine auffallende Ähnlichkeit mit Sean Connery hat, strahlt Ruhe, aus der bekanntlich die Kraft kommt, und zugleicht positive Energie aus. Er ist charismatisch, charmant und wortgewandt, ein leidenschaftlicher Streiter für seine Projekte und Visionen, die er mal subtil, mal mit Nachdruck in der Öffentlichkeit publik macht. Geistig und körperlich sehr agil, scheint er kein bisschen müde oder resigniert zu sein, obwohl er bald das 85. Lebensjahr vollenden wird, und jetzt, an den ersten vier Junitagen – dem Italienischen Kulturinstitut sei Dank – in der deutschen Hauptstadt ein wahres Marathon an Eröffnungen, Konferenzen, Gesprächsrunden und Interviews absolvieren muss. Beim Pressetermin am 1. Juni sagt er: »Das, was ich jetzt mache, ist ungewohnt, denn ich lege meinen Hut für die Dauer unseres Gesprächs ab, was sonst nicht meine Art ist, aber in Berlin ist es heißer als in Turin, und ich werde im Sitzen Ihre Fragen beantworten. Ich bin halt alt und das nutze ich schamlos aus.« Das klingt etwas kokett, denn die Zeit scheint am Maestro fast spurlos vorbei gegangen zu sein, obwohl er unverkennbare Spuren in der Zeit hinterließ. Er prägte sie mit seiner (außer)gewöhnlichen und häufig prophetischen Kunst wie etwa mit den »Spiegelbildern«, in denen er Selfies antizipierte, lange bevor Mobiltelefone sie möglich machten.
Nature morte als tablau vivant
Der Künstler, der als Wegbereiter der Arte Povera und der Concept Art gilt, wurde am 25. Juni 1933 in Biella geboren. »Ich heiße Michelangelo Olivero Pistoletto. Ich glaube, dass der Name Pistoletto gewählt wurde, um sich von anderen Oliveros im Susatal zu unterscheiden. Mein Vater nannte sich Ettore P. Oliviero. Für meinen Vater war Pistoletto zu explosiv, für mich gerade richtig, und so wurde ich Michelangelo Pistoletto«, sagt er in dem ihm gewidmeten Dokumentarfilm (2013) von Daniele Segre. Michelangelo, der wie sein illustrer Vorgänger Buonarroti über zahlreiche Talente verfügt, wuchs in einer Familie auf, in der die Kunst zum Alltag gehörte und wo nicht selten die nature morte als tablau vivant auf dem Teller (aufer)stand: »Mein Vater war ein Maler. Es roch überall nach Farben. Der Geruch der Farben vermischte sich mit Küchengerüchen. Meine Mutter war eine exzellente Köchin, mein Vater malte gern Stillleben. Er malte Pilze, Zwiebeln, Fische – und meine Mutter kochte diese Stillleben, wenn er ein Bild beendet hatte.« Kurz nach seiner Geburt zog die Familie Olivero nach Turin, wo der Vater mit Sillleben, Porträts, Landschaften und Restaurierungsarbeiten den Lebensunterhalt verdiente. Als Michelangelo 14 wurde, begann er, in der väterlichen Restaurationswerkstatt zu arbeiten – und besuchte deshalb eine Abendschule. »Mein Vater war ein traditioneller Maler und hatte keinen Zugang zur zeitgenössischen Kunst. Er war mein Lehrer und brachte mir bei, dass Kunst eine Symbiose zwischen Augen und Händen, zwischen Inhalt und Technik ist«, erinnert sich Pistoletto. »Er lehrte mich auch, Epochen, Stile und einzelne Künstler zu unterscheiden, und jeden Sonntag gingen wir in die Turiner Pinakothek. Aus diesem Grund galt mein Interesse zuerst der Antike; ich fing an, primitive byzantinische Ikonen zu malen.« Doch seine Mutter war der Meinung, dass Antiquitäten zwar schön sind, man von ihnen aber nicht leben kann und animierte ihren Sohn, die bekannte Turiner Werbeschule von Armando Testa zu besuchen.
Faszination für den Film
»Ich schrieb mich dort ein und lernte, denn ich war ein folgsamer Mensch«, erzählt Michelangelo in Berlin. Das war eine gute Entscheidung, denn dort kam der junge Mann mit der zeitgenössischen Kunst in Berührung: »Die damalige Werbung schöpfte Ideen aus der zeitgenössischen Kunst, sie war von der Ästhetik der modernen Kunst beeinflusst. Turin war in der glücklichen Lage, die Nachkriegsavantgarde aus den USA, Frankreich und Deutschland zu zeigen. Damals, in den 1950er Jahren, lernte ich Kunst als Ausdruck großer Freiheit kennen. Ich habe verstanden, dass die antike Kunst zwar interessant, doch die zeitgenössische Kunst geradezu explosiv ist.« Neben der Kunst hatte das Kino einen immensen Einfluss auf Pistolettos künftiges Werk. »Ich ging jeden Tag ins Kino, das Kino faszinierte mich, das Licht der Projektoren, der Charme der großen spärlich beleuchteten Räume. Ich glaube, meine Faszination für den Film hat meine Arbeit beeinflusst. Das Kino, die Fotografie, das Licht, die Reflexionen über die Menschen, über die Welt. Es kamen viele Elemente, die sich darin vereinigten: Vergangenheit und Zukunft, die Vergangenheit in der Restaurierung, die Zukunft in der Werbung. Kunst als Wahrheitssuche, der Einfluss des Künstlers auf die Welt.«
Eine Art Phänomenologie
Seit Mitte der 1950er Jahre malte er Selbstporträts. »Ich nahm ein Blatt und einen Bleistift und guckte sehr aufmerksam in den Spiegel, als ich mich porträtierte. Da merkte ich, dass ich was Schmutziges hatte: Es war mein Bart. Er war meine Obsession. Ich kürzte den Bart, ließ mir einen Schnurbart und lange Haare wachsen. Ich glaube, das war der Drang, mein Gesicht zu verändern, mit meiner Identität zu spielen, mich in vielen Rollen zu zeigen. Das war ein Aspekt von mir: Ich wollte anders aussehen und einen anderen Weg gehen.« Pistoletto merkte, dass der Spiegel die ganze Wahrheit über das Gesicht in Frontalansicht zeigte. Während er nach dem Studium bei Armando Testa in der Werbeagentur eines Freundes arbeitete, experimentierte er weiter mit den Selbstporträts. Er fotografierte sich und klebte die Fotos auf die Spiegel. »Das wurden Bilder der Erinnerung an diesen einen Augenblick im Spiegel. Es war die Gegenwart der Vergangenheit in der Gegenwart, eine Art Phänomenologie. Eine Vergangenheit, die ständig in der Gegenwart sichtbar ist.«
Die Wahrheit im Spiegel
1958 bekam Michelangelo Pistoletto den San-Fedele-Preis in Mailand, zwei Jahre später hatte er seine erste Einzelausstellung in der Turiner Galleria Galatea. Weil seine Bilder gern gezeigt und gekauft wurden, beschloss er, sich ganz der Kunst zu widmen. Ein Aha-Erlebnis beeinflusste seinen künstlerischen Weg: »In einer Galerie waren Bilder von Lucio Fontana ausgestellt, die Leute sahen sie durch das Schaufenster und diskutierten darüber: ‘Das ist keine Kunst, das ist ein Affront gegen die Kunst!’ Und ich dachte, es muss schon eine Richtigkeit haben, dass Fontana es so macht. Er hat seine eigenen Motive gefunden, also muss ich meine Motive finden. Das war sehr wichtig, einen eigenen Grund zu finden, um zeitgenössische Kunst zu machen. Das habe ich im Spiegel gefunden, als ich Selbstporträts malte. Die Wahrheit fand ich nicht in der Linie, nicht in der Farbe, nicht im Zeichnen, sondern im Spiegel.« Als Bildträger für seine großformatigen »Quadri specchianti« dienten ihm konkave oder konvexe Zerrspiegel, auf die er Collagen aus Malerei und Fotografien klebte. Dann ging er dazu über, die auf Hochglanz polierten Stahlplatten mit fotorealistische Siebdrucken zu versehen, mit dem Effekt, dass der Betrachter fast völlig mit dem Dargestellten verschmilzt.
Der Venus neue Kleider
Seit Mitte der 1960er Jahren beschäftigt sich Pistoletto zunehmend mit der Plastik. Sein Kunststoff sind vorgefundene Objekte, Ready-mades, für die er alltägliche, banale Gegenstände wie Tische und Stühle, Bettgestelle, Badewannen, hölzerne Madonnenfiguren und alte Kleidungsstücke benutzt. Sein bekanntestes Werk aus der Gruppe dieser »Minusobjekte« ist »Venere degli stracci« (1967), eine Kopie der Marmorstatue »Venus mit dem Apfel« (1813-1816) des dänischen Künstlers Bertel Thorvaldsen, die, mit dem entzückenden, makellosen klassizistischen Rücken dem Publikum zugewandt, vor einem Lumpenberg steht. Es sind keine teuren Konsumgüter, die sich die Göttin der Liebe überziehen könnte, sondern wertlose konsumierte Güter. Zwar ist in diesem Fall die Hauptperson weiblich, doch das Ganze erinnert sehr stark an das stets aktuelle Märchen »Des Kaisers neue Kleider«(1837) von Hans Christian Andersen. Michelangelo Pistolettos »Minusobjekte« drückten auch seine Kritik an der Pop Art aus, denn »sie brachte den globalen Konsum mit sich. Wir konnten uns so eine Kunst in Turin nicht vorstellen, wir wollten die kommerzielle Figur des Künstlers auflösen, eine Figur, verstanden als Verkörperung des Kommerzes, als eine Handelsmarke. Wir wollten keine Kunst, die die Konsumwelt abbildet und zum Konsum verführt.« Aus dieser Haltung heraus, banale, kunstferne, weggeworfene oder gebrauchte Dinge in den Mittelpunkt der künstlerischen Praxis zu stellen und die Kunst vom Sockel zu reißen, entstand eine der wichtigsten Kunstrichtungen im Nachkriegsitalien, für die der Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator Germano Celant 1967 den Begriff Arte Povera prägte. Diese Kunst war nicht arm im Sinne der Ausführung oder der Inhalte, sondern sie zeigte, dass auch gewöhnliche Gegenstände in einem entsprechenden Kontext der »hohen« Kunst ebenbürtig sein können.
Auf, auf ins Paradies 3.0!
»Künstler zu sein heißt für mich frei zu sein, frei zu denken und frei zu handeln, vor niemanden in der Gesellschaft Angst zu haben. Ich denke, dass die Gesellschaft auch ein veränderbares Material ist. Deshalb bin so glücklich, Künstler zu sein, denn ich fühle mich frei und verantwortlich. Und je größer die Freiheit ist, desto größer wird auch die Verantwortung«, sagt Michelangelo Pistoletto. Er konnte ein freier Künstler sein, denn obwohl er dem Kommerz eine Absage erteilte, wollte er offensichtlich auf den Verkauft seiner Werke nicht verzichten. So erwarb er 1996 eine stillgelegte Textilfabrik bei Biella. Seitdem befindet sich dort der Sitz und die Zentrale der Cittadellarte – Fondazione Pistoletto. Diese »Stadt der Kunst« ist eine Art Denkfabrik, in der genreübergreifende Projekte an der Schnittstelle zwischen Kunst, Design, Gesellschaft, Politik, Kommunikation, Wirtschaft und Spiritualität angestoßen werden. In letzter Zeit schwärmt Maestro vom »Terzo Paradiso«, das durch die Wiedergeburt der vom Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung, enthemmten Kapitalismus, Kriegen und von anderen Katastrophen geplagten Welt entstehen kann. Was die Menschheit braucht, um ins „Dritte Paradies“ aufzubrechen, ist »ein evolutionärer Schritt, in dem die menschliche Intelligenz einen Weg findet, harmonisch mit der Intelligenz der Natur zu leben.« Als gelernter Werber hat Michelangelo Pistoletto ein passendes Logo dafür entworfen: ein um eine dritte Schleife ergänztes Unendlichkeitszeichen, dessen Größe variabel sein kann. Jetzt liegt das aus Kopfsteinpflaster, die den Verlauf der Berliner Mauer markieren, zusammengefügte »Dritte Paradies« im geräumigen Hof der Italienischen Botschaft. Das Publikum darf dieses »ortsspezifische« temporäre und irdische Kunstwerk Stein für Stein und Schritt für Schritt umrunden.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Michelangelo Pistoletto und Cittadellarte:
Spiegelungen und Widerspiegelungen
2. Juni – 29. September 2018
Italienisches Kulturinstitut Berlin
Hildebrandstraße 2
10785 Berlin
Öffnungszeiten:
Mo-Fr 10-18 Uhr
Sa 11-18 Uhr (nicht geöffnet an den Samstagen in den Schulferien)
Eintritt frei
Website von Michelangelo Pistoletto
Künstlergespräch mit Michaleangelo Pistoletto in der Adk
Michelangelo Pistoletto. Film von Daniele Segre
Menschentheismus und Demopraxie
Georg W. Bertram im Gespräch mit Michelangelo Pistoletto