Auf einer riesigen, mit Spiegelfolie bedeckten Wand, die über das Dach ragt und an die Fassade des Glaskastens schief angelehnt ist, steht in schwarzen Lettern geschrieben: I do You, was in etwa auf Deutsch Ich besorge es dir bedeutet. Zuallererst besorgt es den Leuten, die sich dem nicht zu übersehenden Objekt nähern, ein angenehmes Erlebnis, denn sie können sich darin spiegeln und sich dabei fotografieren: Je nach Wetter und Tageszeit in einer Entourage aus Wolken, Sonnenschein, Lichtermeer. Und hinter sich sehen sie auf dem Foto Autos, die Richtung Potsdamer Platz rollen und Häuser, die das urbane Bild dieser Gegend prägen. Sie sind, mit einer Ausnahme, alle das Werk von ehemaligen und gegenwärtigen Stararchitekten, denn die Architektur ist eine Männerdomäne, gestern wie heute.
Menschliches Maß vor und hinter Glas
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist das Markenzeichen der seit drei Jahrzenten in Berlin lebenden Venezianerin Monica Bonvicini (* 1965), die mit ihren ortspezifischen Installationen einen kritischen Blick auf das Erbe der Moderne und ihrer berühmten Väter wirft. Ihre neueste Intervention unter dem Titel I do You beginnt bereits vor der Neuen Nationalgalerie, einer Ikone der Baukunst, entworfen von Mies van den Rohe, der vor ihrer Eröffnung 1968 starb. Der imposante Glaskasten, von außen einsehbar, ist die Verkörperung eines transparenten, demokratischen Musentempels – und wirkt nach seiner langjährigen Renovierung noch mächtiger und etwas einschüchternd, denn er strahlt kühle Perfektion und makellose Eleganz aus. Wenn man durch die blankgeputzten Scheiben in sein Inneres schaut, entsteht der Eindruck, vor einer gigantischen Vitrine oder einem Riesenaquarium zu stehen, das winzig erscheinende Menschenfiguren begehen. Es ist ein Denkmal, das sich dieser Architekt – wie viele andere vor ihm und nach ihm – gesetzt haben, um in die Geschichte einzugehen. Auf eine subversive Art bringt Monica Bonvicini die gläserne Haupthalle auf ein menschliches Maß. Ihre vor dem Eingang zur Neuen Nationalgalerie platzierte Wand reflektiert die davor stehenden und sich fotografierenden Menschen in ihrer faktischen Größe. Im Hintergrund sehen sie illustre Bauten, unter anderem von Renzo Piano und Hans Scharoun.
Ketten, Uhren, Neonröhren
Mit I do You schafft Monica Bonvicini ein raffiniertes Gesamtkunstwerk, das durch Spiegelungen und Lichtreflexe den Raum und die sich dort Aufhaltenden multipliziert und nach außen katapultiert. Sie hebt die Grenzen zwischen Außen und Innen auf, alles findet sowohl in der Halle als auch vor und hinter der Halle statt. Das ist zwar eine Illusion, aber eine täuschend echte. Um solche Effekte zu erzielen, benutzt die Künstlerin wie üblich industrielles oder vorgefundenes Material: LED-Neonröhren, Stahl und Ketten, Schutt, billige Kopien der LED-Metallarmbanduhren mit leeren Akkus, die keine Zeit mehr anzeigen oder bei 14:26 Uhr stehengeblieben sind. Alles ist relativ, Zeit und Raum, alles ist eine Frage der Wahrnehmung, die mit recht einfachen Mitteln und wenigen Farben manipuliert werden kann. Worauf es ankommt, ist, die Begierde nach grenzüberschreitenden, prickelnden Erfahrungen zu wecken und zu befriedigen. I do You macht´s auch möglich, sich für genau eine halbe Stunde an den reichlich in der Ausstellung vorhandenen Handschellen anzuketten.
Dem Alltagsleben entschweben
Unter dem Dach der Neuen Nationalgalerie baute die Künstlerin eine Art Spielburg, zu der man auf einer wackeligen Treppe gelangt. Von unten betrachtet, scheinen die Menschen, die sich auf die zwei Schaukeln drängen und sich dabei auf Selfies verewigen, in der Luft zu hängen. Diese Schaukeln, die aus Stahlketten geflochten wurden, sind keine Illusion. Sie klirren unheimlich und verführerisch und lassen an ein SM-Etablissement denken, sind wohl deshalb ein wahrer Publikumsmagnet für jene, die im Alltag solche Dinge eher nicht benutzen. Und sie laden die Fotos der etwas unbequemen und sich kalt anfühlenden, aber freundlichen Folterinstrumente auf Facebook und Instagram und Twitter hoch, sodass der reale Raum mit dem virtuellen verschmilzt.
Monica Bonvicini ist halt eine Künstlerin, die alle heute zugänglichen Räume unter ein Dach bringt. Und auf die Terrasse, wo beim Umrunden der Neuen Nationalgalerie die rezitierten Titel von 2000 bisher von ihr geschaffenen Werke namens Retrospektive nicht zu überhören sind. Womit sie offenbart, mit welchem Fleiß und Konsequenz sie die Glasdecke der Kunst durchbrochen hat und nicht müde wird, der Männerriege der Moderne und deren Ikonen Paroli zu bieten.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Monica Bonvicini
I do You
noch bis 30.04.2023
Neue Nationalgalerie >>>
Mo geschlossen; Di, Mi, Fr, Sa, So 10:00–18:00 Uhr, Do 10:00–18:00 Uhr
Eintritt 8 / 4 EUR; jeden Donnerstag von 16 bis 20 Uhr frei