Ein Kreis aus Flusskrabben. Sie sind zum Teil schwarz, zum Teil rötlich und sehen echt aus, so echt wie aus Plastik gegossen. Sie sind aber aus Porzellan gebrannt und handbemalt. Sie liegen auf dem Holzparkett in einem Museum. Ein Kunstwerk also, entstanden und zur Schau gestellt, um auf etwas Wichtiges aufmerksam zu machen. Worauf? Auf die Ausrottung einer schmackhafter Spezies durch den ungehemmten Appetit der Menschheit? Auf den grenzenlosen Konsum? Oder sind es etwa Wollhandkrabben, jene aus China stammenden gefräßigen Neozoen, tierische Neubürger, die sich in unseren heimischen Gewässern ausbreiten und unsere Fische auszurotten drohen? Ein Symbol der unerfreulichen Folgen der Migration? Nein, diese chinesischen Flusskrabben, eines der Werke des Künstlers Ai Weiwei im Berliner Gropius-Bau, deuten an, dass es in China keine Meinungsfreiheit gibt.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Flusskrabben heißen auf Chinesisch »He Xie«, und sind der Titel dieser Bodeninstallation. Doch das Wort »He Xie« klingt genauso wie »Hexie« und bedeutet »Harmonie«. Das ist »ein Begriff, den die chinesische Regierungspropaganda verwendet, um eine ideale chinesische Gesellschaft zu beschreiben.« Wenn die Menschen in China etwas mitteilen wollen, was den Machthabern nicht sexy oder zu sexy erscheint, fügen sie in einen Text einfach »He Xie« ein. Alles klar? Ja, wenn man die an der Wand angebrachte Gebrauchsanweisung zum wortspielerischen Kunstwerk studiert hat, wird verständlich, dass man im heutigen China nicht zwischen den Zeilen, sondern zwischen den Flusskrabben lesen muss.
Kultstätte eines Künstlers
Ai Weiwei ist nun auch in Berlin ganz groß angekommen: mit einer Ausstellung, deren Masse, mediale Verbreitung und Bedeutsamkeit alle anderen Events in den Schatten stellt. »Evidence« nennt sich die Mammutschau im Martin-Gropius-Bau und wird als die weltweit umfangreichste Retrospektive seines Oeuvres gepriesen. Der Inhalt der 15 Container, die nach langer Schifffahrt Bremerhaven erreichten und von dort mit LKWs nach Kreuzberg befördert wurden, steht, liegt, hängt und flimmert jetzt auf 3000 Quadratmetern in 18 Sälen des Museums. Der Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Prunkbau wirkt jetzt wie ein Musentempel, wie die Kultstätte eines Künstlers, der seine eigene Muse ist. Die meisten der gezeigten Werke sind autothematisch, Ai Weiwei ist Inhalt und Mittelpunkt seiner Kunst. Wie in einer Kathedrale versammelt er jeden einzelnen Beweis (»Evidence«) seines Leidenswegs, darunter Handschellen aus Jade, einen Kleiderbügel aus Bergkristall, eine Gasmaske und vier Überwachungskameras aus Marmor, also Dinge, die, aus edlen Materialien gefertigt, zu Reliquien, zu Kultobjekten werden. Wie ein Reliquienschrein mutet auch der originalgetreue Nachbau jener Zelle an, in der die bösen Regierungschinesen den Künstler 81 Tage lang gefangen gehalten hatten. Dort gab es nur ein Bett, ein Regal, ein separates, mit Plastikfolie beklebtes Klo ohne Tür, ein Waschbecken und eine Dusche. Dieser düstere, obwohl weiß gestrichene Ort, wo ununterbrochen Licht brannte und der Häftling rund um die Uhr von Soldaten bewacht wurde, steht jetzt für Besucher offen. Die Schlange vor dem Eingang ist lang. Das Publikum wartet geduldig auf Einlass, um einen aufregenden und schauderhaften Kurztrip in den Knast zu unternehmen. Im Museum ist alles möglich.
Glänzende Abwesenheit
Der 56-jährige Ai Weiwei ist der berühmteste Chinese in Deutschland – und der Inbegriff zeitgenössischer chinesischer Kunst schlechthin. Je mehr ihm die chinesischen Behörden den Reisepass verweigern, desto präsenter ist er hierzulande. Lange vor der Eröffnung der »Evidence« bewegte die veröffentlichte Meinung eine existenzielle Frage: »Kommt er nach Berlin? Kommt er nicht?« Weil er leider nicht kommen durfte, pilgerten Journalisten, Juristen, Kuratoren und Fotoreporter zu ihm, in die ehemalige Traktorenfabrik am Stadtrand von Beijing, die der einstige Architekt und ein heute kommerziell sehr erfolgreicher Kunstunternehmer erworben und zu einem geschmackvollen Domizil samt Riesenatelier umgebaut hat. Es war in vielen Homestories zu lesen und zu sehen, dass der großgewachsene und nicht besonders auf die Figur achtende Mann von Überwachungskameras umzingelt ist, die der chinesische Geheimdienst in seinem Garten installierte; dass der »konzeptuelle Künstler« ein großes Team beschäftigt, 30 Katzen und einige Hunde vor dem Kochtopf gerettet und bei sich aufgenommen hat; dass er fotografiert, filmt, singt, tanzt, schreibt, twittert und bloggt. Dass er ein stolzer Vater ist, der sich mit seinem kleinen Söhnchen Ai Lao gern in Badehose am Strand und auf Instagram zeigt. Während sich Ai Weiwei in China und im World Wide Web mehr oder weniger frei bewegen kann, haben ihm die chinesischen Behörden den Reisepass entzogen. In China hat er Ausstellungsverbot, doch seine Werke, in denen er die dortigen Missstände zum Hauptthema macht, dürfen rund um die Welt reisen. Nach Venedig, nach San Diego, nach Berlin. Welchen Sinn dieses seltsame Spiel hat, ist unverständlich. Einen Vorteil hat das Ganze: Je mehr der Künstler durch seine erzwungene Abwesenheit glänzt, desto anwesender ist er. Ein Held, dem seine Freunde im Westen: Museumsdirektoren, Galeristen und andere Akteure, die auf dem Kunstmarkt agieren, fast schon zu einem Heiligen apostrophieren.
Verscherbelt, lackiert, verfolgt
Wie in der Ausstellung »Evidence« zu erfahren ist, hat sich Ai Weiwei vorgenommen, sein Land zur Räson zu bringen. Er ist ein Mahner, der China vor den Folgen der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung und der Urbanisierung warnt. Die Dörfer entvölkern sich, Bauern ziehen in die Städte. Gegenstände, die ihnen seit Generationen gedient haben, lassen sie zurück. Das versinnbildlichen die sechstausend Hocker aus unterschiedlichen Epochen im Lichthof des Martin-Gropius-Baus: ein Mosaik aus einfachen, fast identischen Möbeln, die sich nur hie und da farblich voneinander unterscheiden. Wenn man sie von oben betrachtet, wirken sie wie ein Pixelteppich, wie ein Denkmal der weggeworfenen oder verscherbelten Vergangenheit, aus der eine virtuelle Gegenwart entsteht. Auch was heute noch als wertvoll gilt, wird neu verpackt. Um das zu demonstrieren, ließ Ai Weiwei acht kostbare antike Vasen mit glänzendem Autolack überziehen, denn die neureichen Chinesen schmücken sich heute lieber mit Nobelkarossen der Marke Mercedes oder BMW, zumal sie viel billiger und zugänglicher sind als Artefakte längst verblichener kaiserlicher Dynastien. Konsum und Propaganda machen die Menschen dumm, sodass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und für die Politik nichts übrig haben. So können für den Bau neuer Wohnsiedlungen alte Tempel abgerissen werden; tausende Kinder sterben 2008 beim Erdbeben in Sichuan unter den Trümmern ihrer Schulen, die mit zu schwachen Stahlträgern ausgerüstet waren. Wer, wie Ai Weiwei die Zahl der Toten und ihre Namen publik machen will, wird bestraft. So zerstörten die Behörden sein Atelier in Shanghai, verhafteten ihn, überzogen ihn mit Schikanen und verunglimpften ihn als einen vermeintlichen Steuerbetrüger.
Christliche Ikonografie und Dadaismus
Doch Ai Weiwei gibt nicht auf. Er ist ein unerschrockener Einzelkämpfer mit einem treuen Mitarbeiterstab, der ihm dabei hilft, seinen Leidensweg, sein Engagement für die Opfer der behördlichen Willkür und gegen Vertuschung und Geheimhaltung in Kunst zu verwandeln. Der Universalkünstler, Dissident, Aktivist und Aktionist ist vor allem ein begabter Selbstdarsteller, ein Popstar, der an seiner Legende fleißig strikt. Er ist jener Mann, der Aufsehen erregend für China und an China leidet. Und weil er lange Zeit in New York City gelebt hat, weiß Ai Weiwei, was zu tun ist, um den internationalen, also vorwiegend westlichen Kunstmarkt zu begeistern. Seine Werke sind ein Mix aus christlicher Ikonografie, Dadaismus und Pop Art: medienwirksame Monumente eines Märtyrers. Das sehen die Leute gern, denn es wirkt altbekannt. Zum einen überhöht Ai das ihm von den chinesischen Machthabern zugefügte Leid, indem er die Marterwerkzeuge wie Handschellen und Überwachungskameras in Reliquien verwandelt, halt so, wie es sich für einen Märtyrer gehört. Zum anderen monumentalisiert er Readymades und zeigt, dass er Marcel Duchamp übertreffen kann: während sich sein Vorbild mit einem »Fahrrad-Rad« auf einem Hocker begnügte, müssen es bei Ai Weiwei sechstausend stehende Hocker und 150 hängende Fahrräder sein. Größer heißt nicht besser, doch ist wie gemacht für die heutige Zeit.
Kein Wunder, dass »Evidence« von Anfang an ein großer Erfolg ist: binnen eines Monats haben sie 55.000 Menschen besucht. Es wäre interessant zu erfahren, ob jemand den Film »Chang‘an Boulevard« zu Ende gesehen hat. »Die vielschichtige urbane Collage« von Ai Weiwei dauert 10,5 Stunden: eine Länge, die zu den Öffnungszeiten des Martin-Gropius-Baus nicht so ganz passt.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 9, Mai 2014
Ai Weiwei
»Evidence«
3.04.-13.07.2014
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchner Straße 7
10963 Berlin
Mittwoch bis Montag, 10 – 19 Uhr,
ab dem 20. Mai täglich von 10 – 20 Uhr
Eintritt 11 / 8 Euro, frei bis 16 Jahre
Katalog 25 Euro