Es ist dunkel in den beiden Hallen, so dunkel, dass die Menschen, die an den Bildern vorbeiziehen, schemenhaft wirken. Obwohl die Ausstellung in der ersten Etage des Akademiestandortes am Hanseatenweg 10 in Berlin-Tiergarten gezeigt wird, herrscht dort eine sakral-erhabene Atmosphäre wie in einer Krypta, wo das Kunstvolk sich an kostbaren Reliquien ergötzen darf. Kein Wunder, denn es gilt eine Kunstikone zu feiern, die Grande Dame der Fotografie Nan Goldin (* 12. September 1953 in Washington D.C.), welche als Trägerin des Käthe-Kollwitz-Preises 2022 endlich wieder persönlich zu ihrer Ehrung nach Berlin, wo sie nicht wenige Jahre im Westen der damals geteilten Stadt verbrachte, gekommen war. Nan Goldin, begründet die Jury, zu der drei Mitglieder der Sektion Bildende Kunst der AdK, Luc Tuymans, Corinne Wasmuth und Hubertus von Amelunxen gehören, mit der Feder des letzteren ihre Wahl, ist eine Künstlerin, die – wie Matthias Grünwald, Piero della Francesca, Andrea Mantegna oder Francisco de Goya vor ihr – Leid, Ekstase, Glück und Tod ins Bild bringt. Die Fotografien von Nan Goldin muten wie Gänge durch die »Göttliche Komödie« an, ohne Virgil findet sie ihren Weg zu den Menschen in den Bars, den Wohnungen und Hotels, in Südfrankreich, in der Welt, am Wasser. (…) Nan Goldin ist eine Dichterin des Bildes.
Euphorie und Ernüchterung
Da ist was dran, denn tatsächlich bringt die bejubelte Fotografin, der Hubertus von Amelunxen durch Einreihung in die illustre Künstlerrunde auf eine mehr als divine Art lobhudelt, keinen Virgil und auch keine Beatrice, die auch eine gewisse Rolle in der »Göttlichen Komödie« spielte, ins Bild. Die Protagonisten und Protagonistinnen ihrer Fotoarbeiten tragen andere Vornamen: Brian, Naomi, Dieter, Thora etc. Sie sind keine literarischen oder historischen Figuren, sondern Zeitgenossen der Künstlerin, einer Beobachterin und Teilnehmerin des Geschehens. Nachdem sie ihre Familie bereits mit 14 verlassen hat, fand sie in Boston, dann in New York, Berlin, Paris oder sonst wo sie überall lebte, eine neue. Die Kamera war ihr verlängerter Arm und für die von ihr verewigten Familienmitglieder in vielen Städten der Welt etwas Vertrautes, sodass sie sie sich auch in den intimsten Situation ablichten ließen: im Bad, vor dem Spiegel, unter der Dusche, auf dem Bett, Sofa, auf dem Klo, beim Pissen und Küssen, beim Sex, beim Saufen und Kiffen, beim Feiern und Trauern, bei der Euphorie und Ernüchterung. Goldin stellt die Menschen so dar wie sie sie erlebte und wie sie sind, unabhängig davon, welcher Familie, Subkultur oder sexuellen Minderheit sie sich zugehörig fühlen: tragische Geschöpfe, die, in ihren Körpern gefangen, sich bemühen, ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Normen, Konventionen und den ihnen zugeschriebenen und tradierten Rollen zu führen. Liebe und Hass, Machtspiele und Machtmissbrauch, Brutalität und Zärtlichkeit, Autarkie und Abhängigkeit sind von Anfang an die Themen ihrer Fotografien. Berühmt wurde sie durch die mit Musik unterlegte Diashow »The Ballad of Sexual Dependency« (deren Titel an Brechts & Weils »Ballade von der sexuellen Hörigkeit« aus der »Dreigroschenoper« anknüpft) und die vor allem als Fotoalbum (1986, deutsche Ausgabe bei Zweitausendeins, 1987) für großes Aufsehen sorgte, denn es war ein Tagebuch, das ich andere lesen lasse. Fotografieren war für Nan Goldin ein Weg, auf dem sie ihre traumatischen Erlebnisse lindern konnte: das Leben in einem gar nicht so progressiven Elternhaus in einer Suburbia von Washington, den Suizid ihrer geliebten Schwester, die Verführung durch einen älteren Mann, die Verlogenheit und Heuchelei der (spieß)bürgerlichen US-amerikanischen Gesellschaft in den 1970er und 1980er Jahren. Und ein Mittel, die Erinnerungen an die Schwester sowie die an Drogen und AIDS verstorbenen Freunde nicht ganz verblassen oder vergehen zu lassen.
Kammerspiele im tristen Ambiente
Obwohl Nan Goldins Fotografien vor nicht so langer Zeit als skandalös empfunden wurde und ihre Ausstellungen in manchen Städten (zum Beispiel in Warschau 2003) Parlamentarier auf den Plan riefen, sind sie unspektakulär. Sie hat stets das Individuum im Blick, einzelne Menschen, Paare, ganz selten größere Gruppen. Es sind mehr oder weniger defragmentierte Porträts in anonymen Transiträumen, billigen Pensionen, tristen Mietwohnungen, Stundenhotels, Kneipen, WG mit kaputten Möbeln und spießigen Tapeten: Die Bühne von Goldins Kammerspielen ist ein Ambiente, in dem Chaos oder Leere, Trostlosigkeit, Entfremdung und häufig auch Verzweiflung herrschen. Auf ihren Bildern, von denen die meisten in unwirtlichen Interieurs aufgenommen wurden, sieht man Menschen, die dennoch eine innere Schönheit ausstrahlen, auch wenn sie von der Last der Lust oder Laster trotz jungen Alters recht mitgenommen wirken. Um ihrer Einsamkeit zu entkommen, stürzen sie sich in die Zweisamkeit. Das Bett ist mal Liebesnest, mal Schlachtfeld, der Geschlechtsakt gleicht häufig einem brutalen Kampf, wonach Augenhämatome und blaue Flecken an anderen Körperteilen zeugen. Kein Rausch bleibt ohne Folgen, auch wenn ein Leben ohne Rausch unerträglich sein kann. Auch ein Trip ins Freie bringt auf Dauer kein Glück, die unscharfen Landschaften sind bedrohlich, der Himmel mutet gespenstisch an, wogegen die imposanten, etwas verwischten Mausoleen auf Friedhöfen friedlich und harmonisch wirken. Weil alle vergänglich sind, sollte die Kunst sie vor dem Vergessen bewahren. Sie zeigt jene, die nicht mehr da sind, schenkt ihnen ein Nachleben.
Historisch und universell
Die Inszenierung der Ausstellung von Nan Goldin mit 60 Fotografien aus fünf Jahrzehnten (worunter sich auch Grinds – großformatige Fotokollagen – zum Thema Betten oder Spiegel befinden) in der Akademie der Künste am Hanseatenweg 10 in Berlin ist beeindruckend. Die wie ein Fries an den schwarzen Wänden hängenden Bilder muten wie Light Boxes oder Monitore an. Das ist eine Illusion, denn sie sind in Wirklichkeit von oben beleuchtet. Sie tauchen allmählich aus der Dunkelheit auf, fesseln die Aufmerksamkeit und zwingen dazu, sie genau zu betrachten und unter ihre Oberfläche zu schauen. So kann das Helle im Dunkeln und das Dunkle im Hellen entdeckt werden, die Dualität des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Nan Goldins Fotografien, welche die in der noch nicht so weit entfernter Vergangenheit marginalisierten und verpönten sexuellen Minderheit oder Subkulturen in den Focus der Öffentlichkeit rückten und ihnen halfen, die gesellschaftliche und juristische Akzeptanz zu erlangen, haben nicht nur eine historische Bedeutung. Sie sind universell, denn sie zeigen die Menschen auf ihrer Suche nach Glück, Liebe, Nähe, Geborgenheit und Lust, wobei sie häufig scheitern. Wenn Nan Goldins Werk unbedingt mit jemanden verglichen werden muss, dann mit dem ihrer großen Vorgängerin Diane Arbus (1923–1971), von der das Zitat stammt: Die Fotografien sind der Beweis dafür, dass etwas existiert hat und jetzt verschwunden ist. Wie ein Fleck. Und ihre Stille ist verblüffend. Man kann sich abwenden, doch wenn man zurückkommt, werden sie immer da sein und einen ansehen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Das Porträt von Nan Goldin © Elena Ternovaja, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 >>>
Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin
Die Ausstellung wurde bis zum 16. April 2023 verlängert
Akademie der Künste >>>
Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
Di – Fr 14 – 19 Uhr
Sa/So/Feiertage 11 – 19 Uhr
€ 6/4, Eintritt frei bis 18 Jahre, dienstags und jeden ersten Sonntag im Monat