Oh, diese kuriose & furiose Nase!
Oh, diese kuriose & furiose Nase!

Oh, diese kuriose & furiose Nase!

Berlin ist die einzige Metropole der Welt, die mit drei Opernhäusern – vielleicht der einzige positive Relikt der deutschen Teilung – mehr als reich gesegnet ist. Am zweiten Juniwochenende organisierten sie ein Fest, das am Freitag, Samstag und Sonntag mit einem musikalischen, gesanglichen, interpretatorischen und selten servierten Drei-Gänge-Menu der Spitzenklasse aufwartete und den Geschmacksnerv des Publikums genauestens traf. So wurde am 15. Juni in der Deutschen Oper Rossinis »Il viaggio a Reims« sozusagen als Vorspeise, am 16. Juni in der Komischen Oper Schostakowitschs »Die Nase« als Hauptspeise und am 17. Juni Verdis »Macbeth« mit den Stars Anna Netrebko und Placido Domingo in den Hauptrollen als Dessert aufgetischt.

Von Urszula Usakowska-Wolff

Während »Il viaggio a Reims« und »Macbeth« zum klassischen Opernrepertoire gehören, ist die vom 21-jährigen Dmitri Schostakowitsch komponierte »Nase«, sein erstes und wohl verrücktestes Meisterwerk des Musik- und Tanztheaters, ein typisches Produkt der Roaring Twenties. Es entstand kurz nach Ernst Kreneks »Jonny spielt auf« (Uraufführung am 10. Februar 1927 im Neuen Theater zu Leipzig) und fast gleichzeitig mit Kurt Weils »Dreigroschenoper« (Uraufführung am 31. August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin). Als Inspirationsquelle diente dem jungen Musikgenie die gleichnamige Erzählung (1836) von Nikolai Wassiljewitsch Gogol, erschienen in seinen »Petersburger Novellen«. Schostakowitschs »Nase« ist eine Oper in drei Akten mit 16 aufeinander folgenden Szenen unterschiedlicher Länge, die von Zirkusmusik, Polka, Galopp, russisch-orthodoxer Kirchenmusik, Volksmusik (Balalaika) untermalt werden. Musik und Gesang, die häufig einen lautmalerischen Charakter haben, parodieren einerseits das Genre der klassischen Oper, fügen sich andererseits zu einer grandiosen und jazzigen Großstadt-Soundcollage (allein am Schlagzeug sitzen zehn Spieler!), die das Publikum zum Grooven bringt. Die erste Oper des jungen Komponisten war ganz und gar atonal und enthielt den ersten reinen Schlagzeugsatz der Musikgeschichte. Obwohl »Die Nase« ein verheerendes Bild der zaristischen Bürokratie und des damaligen Spießbürgertums zeichnete, war sie den kommunistischen Funktionären und Stalin persönlich ein Dorn im Auge.

Handgranate eines Anarchisten

Sie wurde nach nur 16 Aufführungen abgesetzt, denn, wie der Kritiker Teodor Griz schrieb, »ist die ganze ’Nase‘ ein destruktives Stück, ein nicht schlechter ‘Skandal’, ein jugendlicher Unfug, der gegen die Opernroutine gerichtet ist. Wenn wir schon Vergleiche aus der Artillerie verwenden wollen, so ist ’Die Nase‘ natürlich keine Kanone und erst recht keine weitreichende, sondern die Handgranate eines Anarchisten, die auf der ganzen Linie der musikalisch-theatralischen Front Panik hervorruft und damit den Weg zum Aufbau einer sowjetischen Oper verstellt« (Krzysztof Meyer, Schostakowitsch: Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Schott, 1998). Schostakowitsch, der als von westlichen Kompositionsmethoden beeinflusster »Formalist« und »Kosmopolit« verschrien wurde und der dazu mit einer Oper ohne positiven Helden gegen die Grundsätze des Sozialistischen Realismus verstoßen hatte, zog sein Werk zurück. Und so verschwand es für fast ein halbes Jahrhundert in der Versenkung. Die Inszenierung am Kammer-Musiktheater Moskau 1974 unter der Leitung von Gennadi Roshdestwenski machte die Oper wieder berühmt, sodass sie ins internationale Repertoire aufgenommen wurde. Ihre deutsche Erstaufführung fand bereits elf Jahre zuvor in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf statt. »Was den Partei-Ideologen von 1930 konterrevolutionär erschien, erregte bei der Ruhr-Prominenz von 1963 Langeweile«, berichtete Der Spiegel 27/1963.

Nasenlo(o)ser Womanizer

Die 35-seitige »Nase« von Gogol ist die seltsamste Metamorphose in der Literaturgeschichte. Während seit der Antike, ferner in den Kunst- und Volksmärchen, sich menschliche und göttliche Wesen in Pflanzen und Tiere verwandeln, und es auch menschgewordene Skulpturen gibt, gehört die Verwandlung eines getürmten Körperteils, in diesem Fall der Nase, in einen anderen, gesellschaftlich höher gestellten Menschen, zu einer Ausnahme. Der Aufbau der Novelle ist auch sonderbar: Sie besteht aus einer Aneinanderreihung somnambuler Sequenzen (Nos, wie das Riechorgan auf Russisch heißt, ergibt rückwärts gelesen Son, also einen Traum), zwischen manchen von ihnen gibt es keine kausalen Zusammenhänge, und der Erzähler, der die Handlung kommentiert, vernebelt sie mehr, als dass er Licht in die irre Geschichte bringt. Womöglich war »Die Nase« für Gogol ein Versuch, seine Minderwertigkeitskomplexe literarisch zu verarbeiten: Weil er nicht besonders groß gewachsen war, dafür aber eine überdurchschnittlich große und lange Nase hatte, wurde er »Zwerg Nase« genannt. Die Novelle ist möglicherweise autothematisch, abgesehen davon eine Satire auf das hierarchische System im zaristischen Russland, auf die Korruption und die Postenvergabe, die nur von Beziehungen, Herkunft oder Geld und nicht von Kompetenzen abhängig war. Nachdem der Kollegienassessor Kowaljow seiner Nase verlustig wird, was natürlich eine tragische Angelegenheit ist, bekommt seine Existenz einen gewissen Schwung. Bisher führte er ein zwar bequemes, aber sinnentleertes Leben, banal, routiniert und ereignislos. Und siehe da: als die Nase sich von ihm loslöst, ist endlich was los. Vom kleinen Womanizer wird er zum narzisstischen Nasenlosen oder Nasenlooser und treibt sich auf der Suche nach dem verlorenen Organ und vielleicht auch nach seinem besten Stück (bekanntlich lautet eine Volksweisheit: »Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes«) in der Stadt an der Newa herum. Am Ende kommt die Nase an ihre gewohnte Stelle zurück: Vielleicht für immer, vielleicht auch nicht.

Banale Balbierte & Barbiere

Dieses groteske und absurde Musiktheater ist dafür prädestiniert, von Barrie Kosky in Szene gesetzt zu werden. Aufgrund seiner Familiengeschichte hat der australische Regisseur, der seit fünf Jahren der Komischen Oper eine Hochzeit beschert, ein Feeling für Geschichten, die in Osteuropa spielen oder dort ihren Ursprung haben. So war es nicht anders zu erwarten, dass er auch diesmal das Publikum mit einem bravurösen Spektakel erfreuen wird. Zu sehen ist eine Mischung aus Clowneske, Burleske, Stummkinoästhetik (Schostakowitsch begann im Alter von 16 Jahren als Stummfilmpianist zu arbeiten) und Revue. Das von Ainārs Rubiķis, der mit der »Nase« seinen Einstand als Generalmusikdirektor der Komischer Oper gibt, dirigierte Orchester spielt eine hinreißende Katzen(jammer)musik. Das Ganze darf ja nicht anders klingen, denn viele Komplikationen und Schicksalsschläge, die den Protagonisten der »Nase« nicht erspart werden, sind Folgen des Suffs. Was die Inszenierung dieser Oper, in der es 77 Rollen zu besetzen gibt, auch noch zusätzlich schwer macht, ist das Libretto, welches sich strikt an Gogols Novelle hält: und die ist alles andere als »schöne Literatur« und als Opernstoff eher untauglich. Die Dialoge sind peinlich, banal, langweilig und öde, halt aus dem Alltag gegriffen, begleitet von obszönen Tönen, die den Menschen nach dem Erwachen entweichen. Die Menschen haben wenig oder nichts zu sagen, unabhängig davon, ob sie zu den Beamten, Dienern oder Handwerkern gehören. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch ist genauso schlicht und töricht wie der von ihm balbierte Pseudomajor Platon Kusmitsch Kowaljow. Wenn Antiliteratur, in der es lauter Antihelden und Antiheldinnen gibt, atonal vertont und Aufsehen erregend inszeniert wird, ist es ein absurdes und sehr aktuelles Bühnenvergnügen.

Crazy, cool & jazzy

Für die Aufführung der »Nase« auf den Brettern, die die Komische Oper bedeuten, fand Klaus Grünberg das passende Bühnenbild und eine Beleuchtung, die den cineastischen Charakter dieser doch sehr amüsanten Show hervorhebt. Das Publikum verfolgt die Handlung durch ein großes Guckloch und sieht eine Art Präsentierteller, auf dem häusliche- und Massenszenen schlicht und einfach serviert werden: da steht mal ein Bett, ein Stuhl, ein Sarg, ein Sofa. Wenn der Vorhang am Ende einer Szene fällt, erscheint darauf ein Spot und es ertönt Filmmusik, wie in einem Stummfilmtheater. Im Gegensatz zu der minimalistischen Szenografie sind die Kostüme (Buki Shiff) und die Frisuren des Ensembles bunt, crazy, cool und jazzy. Die Tänzer (Choreografie: Otto Pichler) sehen wie eine Mischung aus Yogi und Transe aus. Ihr Auftritt als steppende Nasen wird lange in Erinnerung bleiben. Damit wirklich jede(r) versteht, dass es offensichtlich nicht lustig ist, anders als die anderen zu sein, verpasst Barrie Kosky dem ganzen Ensemble, außer dem temporär nasenlosen Kowaljow, eine Rolle, in der Günter Papendell wieder einmal als Sänger und Schauspieler glänzt, besonders lange und fleischige Nasen. Er ist ein tragikomisches Opfer der »Entnasifizierung« (ein vom Ulrich W. Lenz, dem Neuübersetzer der Partitur, erfundenes Wort) und fällt dadurch in einer Gesellschaft der massiv Nasifizierten sofort als Außenseiter, ja, vielleicht sogar als Individualist auf.

Komische Oper Berlin, Premiere "Die Nase" am 16.06.2018. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Komische Oper Berlin, Premiere „Die Nase“ am 16.06.2018. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Eine Kraft, die Nasen versetzt

»Die Nase« ist eine beeindruckende und schillernde Inszenierung, zu deren Erfolg das ganze Ensemble beiträgt, vor allem die in mehrere Rollen schlüpfenden Solisten Jens Larsen, Rosie Aldridge, Alexander Karvets, Alexander Lewis, Ivan Turšić, Ursula Hesse von den Steinen und andere. Absurd, grotesk, laut, melancholisch, komisch, ist es letztendlich ein Triumph der Fantasie über die Banalität des Alltags. Die schöpferische Kraft eines Schriftstellers, eines Musikers und ihrer späten Interpreten kann Nasen versetzen, kann ihnen Beine machen, sie zum Steppen und dann wieder auf die Beine bringen. »Sag, was du willst, aber derartige Ereignisse kommen vor auf der Welt – zwar selten, aber sie kommen vor«, schreibt Gogol am Ende seines zeitlosen Meisterwerks.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff


Die Nase
Komische Oper Berlin
Behrenstraße 55–57
10117 Berlin

Nächste Vorstellungen am 28. und 30. Juni
sowie am 6. und 14. Juli 2018