Otto Piene, einem der Mitbegründer der Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO (1958-1966), schwebte von Anfang an eine Kunst vor, die ein kollektives Werk und ein kollektives Erlebnis sein sollte, eine Kunst, die den Himmel, die Luft, den Wind, die Landschaft und den städtischen Raum als Projektionsfläche und Bühne nutzt, die Massen anspricht und zum Mitmachen bewegt. Die Doppelausstellung »More Sky« von Otto Piene in Berlin wird durch den plötzlichen Tod des Künstlers zu einer posthumen Hommage.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Er malte mit Licht, Feuer und Rauch, ließ einen Regenbogen über dem Olympia-Stadion in München steigen, der Himmel war für ihn die größte Leinwand der Welt: Otto Piene war ein Meister, der aus dem Flüchtigen, Vergänglichen und Elementaren Kunst machte. Seine Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und aufblasbaren Objekte, die er »Energieproduzenten« nannte, pulsieren, vibrieren, rotieren und tanzen. Sie fügen sich zu einem einzigartigen »Luftballett« zusammen, in dessen Mittelpunkt die Bewegung, eine Form der Energie, steht. Otto Piene war ein Visionär, dem es gelang, seine Träume zu verwirklichen, denn er glaubte daran, dass sie keine Schäume sind. Er war einer der ersten multimedialen und interdisziplinären Künstler, nicht nur in Deutschland. Seine Kunstwerke sind kleine und große Wunder der Technik, die er einsetzte, um die Dinge zum Schwingen zu bringen. »Was ist das alles, Bild, Farbe, Licht, Vibration, reine Energie? Leben, Leben in Freiheit«, schrieb er bereits 1959. Und stellte zwei Jahre später enthusiastisch fest: »Jetzt sind die Bilder nicht mehr Verliese, die den Geist und seinen Körper fesseln, sondern Spiegel, von denen die Kräfte auf den Menschen übergreifen, Ströme, die sich frei im Raum entfalten, die nicht ebben, sondern fluten.«
Karneval der Kunst
Otto Pienes Kunst verebbt nicht. Seine Arbeiten aus den Jahren 1952 – 1974 sehen aus, als seien sie heute konzipiert und geschaffen worden. Sie werden seit Mitte Juli an zwei Orten in Berlin gezeigt: in der Kunsthalle der Deutschen Bank und in der Neuen Nationalgalerie, einer Ikone der modernen Architektur aus der Hand von Mies van der Rohe. Die doppelte Soloschau heißt »More Sky« und bezieht sich auf das so betitelte, 1973 veröffentlichte Buch, ein ABC und Manifest, in dem der seit 1964 in den USA ansässige und international agierende Künstler seine Gedanken und Skizzen zu Papier brachte. Dem Mitbegründer der Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO (1958 – 1966) schwebte von Anfang an eine Kunst vor, die ein kollektives Werk und ein kollektives Erlebnis sein sollte, eine Kunst, die den Himmel, die Luft, den Wind, die Landschaft und den städtischen Raum als Projektionsfläche und Bühne nutzt, die Massen anspricht und zum Mitmachen bewegt. Sie sollten an einem Karneval der Kunst teilnehmen, wo große und kleine Ballonskulpturen zum Himmel steigen, Fantasiefahnen im Winde wehen, Licht-und Soundinstallationen und Feuerwerke dargeboten werden: eine Neuauflage der Kirmessen für den homo ludens, geschaffen von einem interdisziplinären Team, von Wissenschaftlern, Technikern, Architekten, Ingenieuren und Designern unter der Leitung eines Künstlers. Auch aus einem anderen Grund wird »ein planender Künstler dringend benötigt. Er kann aus einer Müllkippe einen Spielplatz machen, er kann auf einer Wüste einen Park errichten, er kann eine Industriebrache in ein Paradies verwandeln, wenn er einsieht, dass er das tun muss«, schrieb Otto Piene in »My Sky«. Dafür eignet sich freilich ein Museum nicht, denn dort hängen überall Verbotsschilder: »Berühren verboten!«, »Mitnehmen verboten!«, »Bitte nichts ändern!«
Alles bewegt sich
Otto Piene, der sich so dezidiert gegen die Musealisierung und Kommerzialisierung der Kunst wandte, beteiligte sich seit dem Ende der 1950er an dem internationalen Kunstgeschehen. Er nahm dreimal an der documenta in Kassel teil (1959, 1964, 1977), hatte über 130 Einzelausstellungen weltweit, wurde mit Preisen und Ehrungen überhäuft, leitete das zukunftsweisende interdisziplinäre Center for Advanced Studies (CAVS) in Boston (1974 – 1994), war Professor für Umweltkunst am Massachusetts Institute of Technology. Er trug auch dazu bei, dass die Kunsthochschule für Medien in Köln (KHM) sowie das Zentrum Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe gegründet wurden. Doch seine Kunst hat darunter nicht gelitten, er beugte sich nicht dem Markt, obwohl vor allem seine frühen Licht- und Feuerbilder begehrte Sammlerobjekte sind. 60 seiner Arbeiten aus den Jahren 1952 – 1974 sind jetzt in der Kunsthalle der Deutschen Bank in Berlin-Mitte ausgestellt: Dort bewegt sich alles, auch das, was an der Wand hängt. Das ist natürlich eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Unschärfe der Rauch- und Feuerbilder. Parallel zur statischen »Feuerkunst« begann Otto Piene in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre »Lichträume« zu bauen. Es sind dunkle Kabinette mit perforierten Kugeln, die sich drehen. Aus den Löchern fällt Licht auf die Wände, es bildet immer neue Muster und führt ein »Lichtballett« auf. Es gibt auch Lichtskulpturen in Form von Lampen mit 800 Neonbirnen, die mal golden, mal rötlich funkeln. Auf die Frage, warum Licht in seiner Kunst so eine große Rolle spielt, antwortete der am 28. April 1928 in Laasphe geborene und in Lübbecke aufgewachsene Otto Piene: »Mit 16 musste ich als Flakhelfer in den Krieg ziehen. Der Krieg bedeutete, während des Flugalarms im Dunkeln zu sitzen. Der in den Bombennächten erleuchtete Himmel verkörperte den Tod. Wenn am Tag der Himmel blau war, griffen die Flieger an. Nach dem Krieg musste ich vor dem blauen Himmel keine Angst mehr haben. Licht ist Leben.«
Grandioses Schattentheater
Während Otto Pienes frühe Arbeiten in der Kunsthalle der Deutschen Bank von 10 bis 20 Uhr bewundert werden können, ist der zweite Teil seiner Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie eher etwas für Nachtschwärmer. Dort findet nämlich von 22 bis 3 Uhr ein gigantisches »Lichtballett« statt. Es ist die Dia-Performance »The Proliferation oft the Sun« (Die Sonne kommt näher), vom Künstler ursprünglich für eine kleine Off-Bühne in New York konzipiert. Sie besteht aus über eintausend handbemalten Glas-Dias, die in den riesigen dunklen Raum projiziert werden und zu einer »poetischen Raumfahrt« einladen. Der transparente Quader des Mies-van-der-Rohe-Baus ist wie geschaffen dafür: Das Dia-Karussell dreht sich, die runden Flecken bilden eigenartige Konstellationen, überlagern sich, fließen auseinander. Die Menschen werfen Schatten auf die flutenden Bilder, die Bilder werfen farbige Reflexe auf die Gesichter und Körper der Menschen, das Publikum wird zur Projektionsfläche für die Bilder: Ein grandioses Schattentheater, welches an die Inszenierung des Höhlengleichnisses denken lässt.
Drei Megasterne am Himmel
Am 19. Juli wurde das Kulturforum belagert. Fünftausend Schaulustige aus nah und fern strömten in die Potsdamer Straße, blockierten den Verkehr, drängten sich, um der Sonne näher zu kommen, bewaffnet mit Handys, damit sie später zeigen können, dass sie dabei waren. Schlangen bildeten sich vor dem Eingang zur Neuen Nationalgalerie. Doch die größte Attraktion war das »Sky Art Event« auf dem Dach des Musentempels. Dort wurden drei 90 Meter hohe Luftskulpturen, darunter der »Berlin Star« von 1984, zum ersten Mal seit vielen Jahren öffentlich zum Schweben gebracht. Der Wind spielte am Anfang nicht mit, sodass die Leute lange warten mussten, um zu sehen, wie sich aus den weißen Schläuchen prächtige Sterne entwickelten und am Berliner Himmel hell leuchteten. Es war ein atemberaubendes Schauspiel in der friedlichen Kulisse der Nacht. Die Welt ist für einen Augenblich dank Otto Pienes Kunst und Fantasie etwas besser und schöner geworden, was ja schon immer sein Ansinnen war.
Otto Piene hat bis zuletzt den Aufbau seiner beiden Ausstellungen in Berlin koordiniert. Am 15. und 16. Juli traf er sich mit den Medien, antwortete unermüdlich auf Fragen, gab unzählige Interviews, nahm an der Eröffnung seiner Schau in der Kunsthalle der Deutschen Bank teil, besprach am 17. Juli die letzten Einzelheiten des »Sky Art Events« auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie. Am selben Tag ist er auf dem Weg ins Hotel in einem Taxi gestorben. Seine Familie beschloss, die Sterne trotzdem zum Himmel steigen zu lassen. »Darin sind sich alle einig: Otto Piene hat Berlin posthum das schönste Public Art Viewing seit Christos Verhüllung des Reichstags geschenkt«, meint der Tagesspiegel.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 16, August 2014
17.07.-31.08.2014
Deutsche Bank KunstHalle
Unter den Linden 13/15
10117 Berlin
Öffnungszeiten
täglich 10 – 20 Uhr
Eintritt 4 / 3 Euro
Montag Eintritt frei
Neue Nationalgalerie
Kulturforum, Potsdamer Str. 50
10785 Berlin
Öffnungszeiten
Dienstag – Sonntag 22 – 3 Uhr
Eintritt frei
Publikation
Otto Piene. More Sky
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln
In englischer Sprache
Preis 29,80 Euro