Auratisch, asymmetrisch und atemberaubend ist dieser weiße Palast, der im Zentrum von Szczecin thront. Die im Herbst 2014 eröffnete Philharmonie ist eine Krone der Architektur und ein Gesamtkunstwerk. Eine »futuristische Kathedrale der Musik«, »neue kulturelle Leuchttürme« und ein »klingender Eisberg mit goldenem Herzen« wird die Aufsehen erregende Glas- und Aluminiumkonstruktion mit den vielen spitzen Dächern genannt, die direkt an das neugotische Polizeipräsidium anschließt.
Von Urszula Usakowska-Wolff
Die Philharmonie Szczecin ist ein Blickfänger, der sich aus allen Richtungen gut sehen lässt: aus der Nähe, aus der Ferne, von unten und von oben, zum Beispiel aus dem Café 22, das im 22. Stock eines nahe gelegenen Wolkenkratzers liegt. Eine Augenweide ist dieses strahlend weiße und in der Nacht hell beleuchtete Gebäude unabhängig davon, zu welcher Tages- oder Jahreszeit man darauf blickt. Bereits jetzt ist es zu einer Architekturikone und einem Wahrzeichen der Stadt an der Oder geworden, das Fans der schönen Formen und der schönen Töne aus ganz Polen und Europa anzieht. Weil die Philharmonie Szczecin auch ein Meisterwerk der Akustik ist, sind die Konzerte ein Ohrenschmaus und schon Wochen vorher restlos ausverkauft. Ästhetik, Funktionalität, Perfektion und Qualität gehen hier Hand in Hand, sodass dieses Konzerthaus einer der modernsten und vielseitigsten Musiktempel weit und breit ist.
Geschichte und Kontinuität
Mit der Errichtung der Philharmonie wollten die Szczeciner ein Zeichen setzten. Zum einen ging es darum, eine Institution zu schaffen, die identitätsstiftend ist und auf die sie stolz sein können. Zum anderen wollten sie zeigen, dass ihnen die Kontinuität wichtig ist. Kontinuität bedeutet in diesem Fall, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Stadt Stettin hieß und eine deutsche Stadt war. 1944 wurde sie von den Alliierten bombardiert, wobei 90 Prozent der Altstadt und des Hafens sowie 70 Prozent des übrigen Stadtgebiets zerstört wurden. Am 26. April 1945 wurde Stettin von der Roten Armee erobert, doch erst am 5. Juli wurde es von den Sowjets an die polnischen Behörden übergeben. Die Stettiner flüchteten, wurden vertrieben oder ausgesiedelt. Ein beispielloser »Bevölkerungsaustausch« fand dort statt. Von den 200 000 Deutschen, die in Stettin vor dem Krieg lebten, blieben 1947 ganze viertausend zurück. In die fast menschenleere und zerbombte Stadt zogen polnische Flüchtlinge und Vertriebene, darunter viele Kleinbauern aus dem ostpolnischen Wolhynien, das infolge des Krieges der Sowjetunion anheimgefallen war. Direkt hinter Szczecin befand sich die Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone, seit 1949 zur DDR. Als Teil der »wiedergewonnen Gebiete« musste Szczecins Geschichte mit allen Mitteln polonisiert werden. Es war eine der wenigen ehemals deutschen Städte, in denen, im Gegensatz zu Gdańsk (Danzig) oder Wrocław (Breslau), der historische Kern nicht wieder aufgebaut wurde. Auf den Ruinen der Stettiner Altstadt wurden graue Häuser im Schuhkartonstil errichtet. Weil Wohnungsmangel herrschte, waren die Szczeciner glücklich, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
Tradition im neuen Gewand
Spätestens seit der politischen und gesellschaftlichen Wende 1989 blicken die Szczeciner immer offener und unverkrampfter auf ihre Geschichte zurück. Sie blenden die deutsche Vergangenheit nicht mehr aus und versuchen sie erfolgreich mit der Gegenwart und Zukunft ihrer polnischen Stadt, einer Stadt mitten in Europa, zu verbinden. Nach dem Niedergang der Werftindustrie spielt sozusagen die Kulturindustrie hier eine große Rolle. In den letzten Jahren hat sich das 400 000 Einwohner zählende Szczecin zu einem wichtigen Kulturzentrum entwickelt. Neben zahlreichen Museen, Galerien, Theatern, einer pulsierender Jazzszene und der jüngsten, 2010 gegründeten Akademie der Künste in Polen, deren Schwerpunkt das Studium der Neuen Medien ist, zeichnet sich die Stadt durch Bürgerengagement aus, das auf offene Ohren der Stadtoberen trifft. Das ist auch ein Zeichen der Kontinuität, denn in dieser Stadt setzten sich die Bürger immer dafür ein, dass sie lebenswert erscheint. Davon zeugen die Hakenterassen und das Nationalmuseum Szczecin, welches früher das Städtische Museum Stettin beherbergte, aber auch die vielen gepflegten und geräumigen Parks, von Stettiner Industriellen oder wohlhabenden Bürgern gestiftet. Kontinuität heißt: das Alte zu pflegen und es auf die heutige Art zu interpretieren. Kontinuität heißt auch, an der Stelle des Alten etwas Modernes aufzubauen und die Tradition im neuen Gewand fortleben zu lassen.
Ein Multifunktionshaus gestern und heute
Das ist mit dem Bau der Philharmonie Szczecin mehr als gelungen. Das spektakuläre Gebäude ist einer Bürgerinitiative zu verdanken, die sich seit 2004 dafür stark machte, auf dem Gelände des alten Stettiner Konzerthauses einen neuen Musiktempel zu errichten. Genau an der Stelle, wo jetzt »die futuristische Kathedrale der Musik« steht, von den Szczecinern auch als »Eispalast« bezeichnet, prangte das im Herbst 1884 eröffnete und nach den Plänen des Berliner Architekten Franz Schwechten (1841 – 1924) im Stil der italienischen Renaissance gebaute Konzerthaus. Es war eine Kulturinstitution, die sich nicht nur an Musikfreude richtete, denn dort gab es auch mehrere Restaurants und Cafés, in denen vortreffliche Speisen und Getränke serviert und Bälle organisiert wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Konzerthaus stark beschädigt und 1962 abgerissen. Genutzt wurde die leere Fläche als Parkplatz. Aber bereits1948 bezog die damalige polnische Philharmonie Szczecin einen Seitenflügel im Amt der Stadt. Das, was als Provisorium gedacht war, dauerte fast sieben Jahrzehnte. 2007 konnte die besagte Bürgerinitiative die Stadtverwaltung davon überzeugen, einen Wettbewerb zum Bau einer neuen Philharmonie in Szczecin auszuschreiben, worauf 44 Architektenbüros aus Polen und anderen europäischen Ländern ihre Bewerbung schickten. Die Sieger waren der 1976 geborene Italiener Fabrizio Barozzi und der Galizier Alberto Veiga, Jahrgang 1973, die in Barcelona ein gemeinsames Architektenbüro betreiben. Ihr von der Orgel inspiriertes Projekt überzeugte die Jury auch dadurch, dass die Philharmonie ein Multifunktionshaus werden sollte: neben zwei Konzertsälen haben sie auch ein Café und eine Kunstgalerie geplant, also einen für alle offenen Ort.
Ausgezeichnete Architektur
Mit der Wahl des Entwurfs von Barozzi und Veiga trafen die Szczeciner eine exzellente Entscheidung. Die Philharmonie ist von Anfang an ein Publikumsmagnet. Sie wird täglich von hunderten Menschen besucht, denn sie ist ein architektonisches und akustisches Juwel, auch ein Beweis dafür, dass spektakuläre Bauten, an denen sich lokale und ausländische Firmen beteiligen, keine schwindelerregenden Summen verschlingen müssen und rechtzeitig in Betrieb genommen werden können. So kostete die fast 13 000 Quadratmeter große, vierstöckige, aus zwei Konzertsälen und einem unterirdischen Parkhaus für 150 Autos bestehende Philharmonie 30 Millionen Euro, wobei knapp acht Millionen Euro aus Brüssel kamen. Die Philharmonie ist ein Meisterwerk der kühlen Ästhetik und sorgt sowohl außen als auch innen für Überraschung. Es ist kaum zu glauben, was sich hinter der zackigen Fassade verbirgt. Zuerst betreten wir eine riesige weiße Halle, in der eine herkömmliche, sehr breite Treppe zum Konzertsaal und zum Kammermusiksaal führt. Der Konzertsaal, dessen Decke und Wände aus mit Blattgold versehenen dreiecksförmigen Vertäfelungen bestehen, ist das Herzstück des Gebäudes und wird »Sonnensaal« genannt. Hier ist für 951 Zuhörer Platz. Im fast schwarzen Kammermusiksaal, dem »Mondsaal«, gibt es 198 Plätze. Seine äußere weiße Hülle scheint über dem sich darunter befindenden Café Pauza zu schweben. In einer Ecke der Eingangshalle schlängelt sich eine zweite Treppe wie eine Serpentine: eine gehörige Portion Guggenheim NYC in der Stadt in Westpommern. Die hervorragende Akustik, die nicht nur in den Konzertsälen, sondern in allen Räumen herrscht, ist das Werk von Prof. Higini Arau aus Spanien, eines unbestrittenen und weltweit gefragten Meisters seines Fachs. Das Mobiliar ist minimalistisch und bequem, es hat eine dienende Funktion. Alles ist perfekt ausgeführt, elegant und unaufdringlich, auch die Details. Die Nummern wurden mit goldenem Faden auf die Sitze gestickt. 25 000 Led-Leuchten sorgen dafür, dass das Gebäude auch in der Nacht wie ein Planet erstrahlt. Die moderne Lichttechnik macht es möglich, die Fassade von innen nach außen in mehrere Farben eintauchen zu lassen, sodass jederzeit eine neue Lichtinstallation entstehen kann. Kein Wunder, dass dieses bauliche Gesamtkunstwerk viele Auszeichnungen bekommen hat, zuletzt den angesehenen Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur – den Mies van der Rohe Award 2015, mit dem zum ersten Mal ein Bauwerk in Osteuropa bedacht wurde.
Fest in Frauenhand
Die nach dem polnischen Komponisten Mieczysław Karłowicz (1876 – 1909), der, aus dem ehemaligen Ostpolen stammend, in Heidelberg, Prag, Dresden, Berlin und Warschau zuhause war, benannte Philharmonie Szczecin ist ein gelungenes, ja, ein großartiges europäisches Projekt – und an manchen Stellen dem, was in Europa üblich und möglich ist, weit voraus. Diese Kulturinstitution ist nämlich fest in Frauenhand. Dorota Serwa ist die Direktorin der Philharmonie, ihre Stellvertreterin ist Ewa Porada-Spieszny, Chefdirigentin ist Ewa Strusińska, die vorher große Erfolge in Großbritannien feierte und nun in Szczecin einen neuen Wirkungsort fand. Kamila Matczak ist die Pressesprecherin. Die Philharmonie Szczecin ist also ein leuchtendes Beispiel, nicht nur dank der Architektur, sondern auch durch die hundertprozentige Besetzung der Führungspositionen mit Frauen. Und das verdanken sie keiner Quote, sondern einzig und allein ihren Kompetenzen und beruflichen Qualifikationen.
© Urszula Usakowska-Wolff, VG Wort, VG Bild-Kunst
Erschienen im strassen|feger 26/2015
Filharmonia im. Mieczysława Karłowicza w Szczecinie
ul. Małopolska 48
PL 70-515 Szczecin
http://filharmonia.szczecin.pl