Schwarz ist die Farbe, die für Pierre Soulages die Kunst bedeutet und der er seit 1946 treu bleibt: Ich liebe die Autorität von Schwarz, seinen Ernst, seine Klarheit, seine Radikalität. Seine starke Kontrastwirkung gibt allen Farben eine intensive Ausstrahlung, und wenn es die dunkelsten beleuchtet, verleiht es ihnen düstere Großartigkeit, schrieb er 2005. Von den ungeahnten Möglichkeiten der Nicht- oder Lichtfarbe Schwarz überzeugte er sich bereits in seiner Kindheit, als er schwarze Striche auf ein Blatt Papier zeichnete: Sie brachten das Weiß zum leuchten, sodass es wie Schnee aussah. Der »Schwarzmaler«, ein Weihnachtskind, am 24. Dezember 1919 in Rodez, einem kleinen Ort zwischen Toulouse und Montpellier geboren, ist der bekannteste französische abstrakte Maler und zugleich der älteste noch aktive Künstler: ein Einzelgänger, der sich stets allen Moden und Kunstrichtungen verweigerte und das Einzigartige suchte. Sein malerisches Oeuvre besteht aus über eintausend Werken.
Schwebende Skulpturen
Raum und Licht spielen in dem Werk von Pierre Soulages eine bedeutenden Rolle, denn seine zum Teil riesigen Formate, die er auf beiden Seiten mit Strukturen versieht und mal matt, mal glänzend mit Acryl bemalt, sind eigentlich schwebende Skulpturen, die häufig an der Decke und dem Boden mit unsichtbaren Drähten befestigt werden und erst beim Begehen ihre volle Wirkung entfalten: Sie verändern sich beim jeden Schritt; Auge und Licht wandern auf den gefurchten Oberflächen, die an frisch gepflügte Erde erinnern. Manchmal schimmert eine andere Farbe durch wie etwa blau, weiß oder getöntes gelb. Diese schwarzen und stillen Landschaften sind nicht düster. Im Gegenteil: Sie strahlen wohltuende Ruhe und Harmonie aus, laden zum langsamen Betrachten ein, was ein besonderes Erlebnis ist in unserer hektischen, oberflächlichen und bunten Zeit. Damit man sich nur auf das Sehen konzentrieren kann, verzichtet der Künstler auf Titel, er begnügt sich und uns mit den Maßen und dem genauen Entstehungsdatum der Bilder, denn ich denke, ich male, damit der Betrachter – ganz gleich, ob es sich dabei um mich selbst oder jemand anderen handelt – vor dem Bild zu sich selbst finden kann.
Die Farbe des Lichts
Pierre Soulages‘ internationale Karriere begann 1948 in Deutschland. Als jüngster Teilnehmer wurde er damals zur Exposition »Französische abstrakte Malerei« eingeladen und stellte, unter anderem neben Hans Hartung und František Kupka in Stuttgart, Hamburg und Düsseldorf seine kalligraphieartigen, mit breiten Pinseln zum Ausmalen von Räumen, Walzen und großen Bürsten gefertigten Papierbilder aus, für die er statt Farbe Nussbeize oder Teer benutzte. Er nahm an der ersten, zweiten und dritten documenta in Kassel teil. 1960 richtete ihm die Kestnergesellschaft in Hannover und Braunschweig eine Personale aus. Der stets schwarzgekleidete Maler, dessen Werke sich in allen wichtigen Museumssammlungen der Welt befinden, geht unbeirrt und konsequent seinen Weg: Er versucht, ungeahnte Möglichkeiten, die im Schwarz verborgen sind, ans Licht zu bringen, denn für ihn ist Schwarz die Farbe des Lichts: Nur im Licht kann man die Dinge des Nichts sehen und einen Ausgang aus der Dunkelheit finden. Für seine Gemälde, darunter viele Polyptychen, erfand er Ende der 1970er Jahre den Begriff »outrenoir«, was etwa »Überschwarz« bedeutet. Es ist ein jenseits von Schwarz gelegenes, gedankliches Feld, das von dieser Farbe in Licht verwandelt wird. Unabhängig von der Definition von Schwarz und Licht: Die stille Monumentalität und beeindruckende Einfachheit des Œuvre von Pierre Soulages ist einmalig und erleuchtend.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff