Eine Welturaufführung einer Oper erlebt man nur selten. Die großen Opernhäuser vertrauen mehr der Treue, als der Neugier ihres Publikums. Da ist es schon etwas Besonderes, wenn man wie am 9. Juni in der Deutschen Oper Berlin einer Welturaufführung beiwohnen kann. Das nimmt man dann umso gespannter auf, wenn man sich noch an den Film »Teorema – Geometrie der Liebe« (1968) von Pier Paolo Pasolini erinnern kann. Was wurde geboten?
»Il Teorema di Pasolini« ist die zweite Auseinandersetzung des italienischen Komponisten Giorgio Battistelli (* 1953) mit dem Thema, nachdem er schon vor 30 Jahren eine Oper ohne Gesang dazu im Auftrag Hans Werner Henzes geschrieben hatte. Diese neue Oper ähnelt gar nicht der klassischen Oper, denn es gibt weder Belcanto-Arien noch gewaltige Chöre. Es wird auch keine Geschichte erzählt, die gut oder tragisch enden könnte. Battistelli hält sich an Teorema im Sinne eines Berichts über ein wissenschaftliches Experiment. Das nimmt die Inszenierung des irisch-britischen Theaterkollektivs Dead Center auf und lässt die Sänger der handelnden Personen im ersten Teil als Wissenschaftler, die von ihren Aufgaben berichten, auf der Vorbühne agieren.
Eine geordnete bürgerliche Familie (Vater, Mutter, Sohn, Tochter und Hausangestellte) erhält den Besuch eines attraktiven jungen Mannes, dem alle nacheinander sexuell verfallen. Die zwanghaften Regeln der Familie sind zerbrochen, aber bei dem Versuch, mit der gewonnenen Freiheit ein neues Leben zu gewinnen, scheitern sie alle.
Die Sängerinnen und Sänger erfüllten ihre Rollen gekonnt, auch nur eine/n hervorzuheben wäre ungerecht gegenüber den anderen. Wegen der zahlreichen Parlandi waren ihnen ohnehin glanzvolle Gesangspartien verwehrt.
Das Orchester der Deutschen Oper, diesmal unter der Leitung von Daniel Cohen, vermag unter einem behutsamen Dirigat alle musikalischen Stilrichtungen zu meistern. Besonders die leisen Partien halten Musik und Handlung zusammen.
Ob mit »Il Teorema di Pasolini« dem avantgardistischen Komponisten Giorgio Battistelli ein Klassiker gelungen ist, der zum Repertoire der großen Opernhäuser gehören wird, bleibt fraglich. Es ist aber zuerst einmal ein solides Stück Musiktheater, das, nachdem seine Novität verblasst ist, immer wieder neu entdeckt werden wird.
Das Berliner Publikum belohnte die Mitwirkenden mit einem zwanzigminütigen Beifall, zum Teil stehend. Kein einziges noch so zartes Buh war zu hören. Ob der Beifall auch Pasolini und seiner Kritik der bürgerlichen Gesellschaft galt? Das war wohl nur der Anlass, sich einen kulturellen Abend in der Oper zu gönnen, wie sich das für eine bildungsbürgerliche Familie gehört.
Text © Manfred Wolff >>>
Ursprünglich veröffentlicht am 14. Juni 2023
Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Deutsche Oper Berlin
Bismarckstraße 35, 10627 Berlin
Nächste Aufführungen: 16. und 23. November, 2023 jeweils 19:30 Uhr
28. November, 19:30 Uhr (zum letzten Mal)