Seit 75 Jahren zeigt das Haus am Waldsee in der Argentinischen Allee internationale Gegenwartskunst. Hatte man es anfangs mit den großen Namen der von den Nazis als entartet diffamierten Kunst wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso nachgeholt, was zwölf Jahre lang im Berliner Kunstgeschehen versäumt worden war, stehen heute hervorragende zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die noch nicht den Sprung in die monumentalen Räume der Stiftung Preußischer Kulturbesitz geschafft haben, im Zentrum des Ausstellungsbetriebs.
Wunderbares aus dem Unscheinbaren
Der Leiterin des Hauses am Waldsee, Dr. Katja Blomberg, ist mit der Soloschau Ordnung der Wildnis von Christiane Löhr im Kunstsommer 2021 wieder ein Highlight gelungen. Somit sind die Arbeiten aus 20 Schaffensjahren der 1965 in Wiesbaden geborenen Bildhauerin, die in Prato bei Florenz und in Köln lebt, zum ersten Mal in einer institutionellen Einzelausstellung in Berlin zu sehen. Auf Einladung von Harald Szeemann nahm die Künstlerin bereits 2001 an der 49. Biennale von Venedig teil. Sie ist in zahlreichen Museen in Italien, Japan und Deutschland vertreten. Im Gegensatz zu der Arte Povera, der Minimal und der Land Art, deren Einflüsse in Löhrs Werk unverkennbar sind, verzichtet sie auf die große Geste: Ihre Kunst überwältigt nicht, sie berückt und entzückt, befördert Wunderbares aus dem Unscheinbaren. Sie benutzt Materialien, die eher ungeeignet scheinen für eine bildhauerische Gestaltung. Ihre Plastiken aus Samen, Baumblüten, Gras-und Pflanzenstängeln, Pferde-, Hunde- oder Katzenhaar, die sie mit Nadeln oder auf Haarnetz befestigt, erscheinen geleichermaßen ephemer und kraftvoll, vergänglich und beständig. Sie fügen sich zu fragilen Architekturen und Körpern zusammen, die in Glaskästen geschützt werden oder zu denen man sich niederknien muss, wenn sie auf niedrigen Podesten präsentiert werden. Und unter der Decke eines der Räume im Erdgeschoss hängt die ortsspezifische Installation Große Samenwolke aus Distelsamen, die wie ein Kokon anmutet.
Löwenzahnkissen und Klettenvliese
In der Ordnung der Wildnis, einer einzigartigen Wunderkammer der Natur, gibt es auch ein Löwenzahnkissen aus Pusteblumen, ein Gebirge aus Efeusamen und mehrere Klettenvliese. Ein großes Haarnetz aus Pferdehaar breitet sich auf einer halben Wand aus wie ein zartes Spinngewebe und ist fast unsichtbar, genauso wie die Haarsäule, deren man nur durch die spärliche Beleuchtung gewahr wird. Grasstängel beugen sich zu kuppelartigen Formen, zu Zylinder und Bögen und erzeugen so eine Spannung, wie sie auch die großen Kuppeln sakraler Bauten auszeichnet. Alle Plastiken finden ohne Klebstoff zueinander, benötigen keine stützenden Konstruktionen aus Draht. Auch die in der Ausstellung gezeigten Zeichnungen, die sie mit Grafit, Ölstift oder Tusche auf Büttenpapier fertigt, zeugen mit ihren kraftvollen Linien von der Hand einer Bildhauerin, die den Eindruck des Räumlichen auf die Ebene transponiert. Viele von Christiane Löhrs Papierarbeiten, darunter das wunderbare Weidenkätzchen schwarz, sehen wie Skulpturen aus, während ihre Plastiken, darunter der Haarkelch, wie in die Dreidimensionalität überführten Grafiken wirken.
Weich, stachelig, haarig
Fragilität und Volumen, Reduktion und Fülle sind für diese Künstlerin, die auf eine unaufdringliche und stille Art die Schönheit und Wandlungsfähigkeit der Natur zeigt, keine Gegensätze. Für die Besichtigung ihrer Ausstellung, die sich über das ganze Haus am Waldsee erstreckt und einen Dialog mit dessen Interieurs sowie der durch die Fenster sichtbaren grünen Umgebung aufnimmt, sollte man sich viel Zeit lassen. Das Eintauchen in die Ordnung der Wildnis ist ein unvergessliches Erlebnis, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie diese Künstlerin es schafft, aus den unbeständigen und unscheinbaren Materialien so beglückende und sinnliche Werke zu kreieren, dass deren Haptik körperlich spürbar ist. Ihre Formensprache ist einfach wie die der Natur und besteht aus geometrischen Figuren, denen sie mal ein weiches, mal stacheliges, mal haariges Outfit verpasst. Christiane Löhr lässt sie wie Wolken, Kissen, Kelche, Vliesteppiche, Netze oder Säulen aussehen.
Aura der Stille
Ihre zum Teil filigranen und winzigen Objekte, sehr überschaubar und in großen Abständen voneinander platziert, sind von einer Aura der Stille umgeben, die eine ruhige, konzentrierte und durch nichts abgelenkte Besichtigung ermöglicht. Löhrs sparsame Arbeiten, die mit einigen wenigen Farben auskommen, wirken voluminös und trotzdem schwebend durch den gekonnten Einsatz von Leere, Fülle, Transparenz, Licht und Schatten, die ihnen eine zusätzliche räumliche und spirituelle Dimension verleihen. In einer Zeit, da die Kunst zunehmend dem Horror vacui huldigt, erscheint die Ordnung der Wildnis von Christiane Löhr im Haus am Waldsee wie eine wohltuende Ausnahme, denn sie offenbart: Das Wesentliche ist für die Augen sichtbar.
Text © Urszula Usakowska-Wolff & Manfred Wolff
Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Christiane Löhr
Ordnung der Wildnis
20.06. – 05.09.2021
Kuratiert von: Dr. Katja Blomberg und Christiane Löhr >>>
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Internationale Kunst in Berlin
Argentinische Allee 30, 14163 Berlin
Dienstag bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr
Tickets: 7 / 5 Euro
Katalog: Herausgegeben und eingeführt von Katja Blomberg. Mit einem Essay der Autorin Marion Poschmann. Zweisprachig. Verlag der Buchhandlung Walther König. 24,80 Euro.