Eine Melodie, unverkennbar die eines Tangos, zieht durch das halbe Haus, strömt aus dem Ausstellungsraum, der sich in der ersten Etage des rechten Seitenflügels befindet, und beflügelt offensichtlich den auf der lichtdurchfluteten Treppe eilenden Fuß. Das Reich der Träume, die keine Titel haben, von Zineb Sedira nun auch für das Berliner Publikum in einem Teil des Hamburger Bahnhofs nachgebaut, ist spärlich beleuchtet, wie es sich für eine cineastische Installation gehört. Nachdem sich das Auge an die Halbdunkelheit gewöhnt, taucht daraus zuerst eine große runde Uhr auf, die bei 14 Minuten vor Zwölf stehen geblieben ist. Während die Zeiger sich nicht bewegen, scheint alles andere recht beschwingt zu sein: Es flackern Discokugeln und Lichterketten, die an der Decke einer altmodischen Bar hängen und für eine nostalgische Atmosphäre sorgen. Und auf dem Parkett tanzt ein junges Paar Tango.
Hommage an das Kino
Zineb Sediras Gesamtkunstwerk »Dreams Have No Titles«, ursprünglich in einer etwas anderen Form im Französischen Pavillon auf der 59. Biennale von Venedig (2022) präsentiert, verwandelt den Ausstellungsraum im Hamburger Bahnhof in ein Filmstudio mit einer Reihe von Filmsets und Requisiten, darunter Scheinwerfer, Rollkisten, Kleiderständer, Koffer, eine Garderobe mit einem Schminktisch und Spiegel, ein Regal mit gestapelten Filmdosen, davor ein Schneidetisch, eine mechanische Schreibmaschine, eine kleine Bühne mit Instrumenten einer Rockband, ein Aschenbecher mit Kippen, Zigarettenschachteln, mehrere leere oder volle Flaschen und halbleere Gläser mit Rotwein. Das sind Dinge, die unverkennbar aus einer anderen, nicht so weit zurückliegenden Zeit stammen, die die 1963 in einer algerischen Einwanderungsfamilie in Paris geborene Künstlerin aufleben lässt. Es ist ihre Hommage an das Kino, wo sie in ihrer Kindheit und Jugend eine Zuflucht fand und Filme sah, die ihre künstlerische und persönliche Haltung prägten. Einige Sets, darunter die gute Stube eines Hauses in der Kasbah aus dem Film »Schlacht um Algier«, der Schneideraum aus »F wie Fälschung« und die Tangobar aus »Le Bal« wurden für die Ausstellung von Zineb Sedira detailgetreu nachgebaut. Manche sehen aus, als seien sie vor kurzem vom Filmteam verlassen worden: ein bisschen chaotisch und schemenhaft wie Erinnerungen, die beim Anblick von etwas Vertrautem in Gang gesetzt werden.
Vor und hinter den Kulissen
Die Installation »Dreams Have No Titles« von Zineb Sedira im Hamburger Bahnhof ist faszinierend und entfaltet eine Sogwirkung, der sich das Publikum nicht entziehen kann. Die Menschen betreten die nachgebauten Räume, setzen sich auf die Betten und Sessel, werfen Schatten an die Wände, sind Betrachter und Mimen in einer Person. Sie befinden sich sowohl vor als hinten den Kulissen, bücken sich, um manche Requisiten aus unmittelbarer Nähe zu sehen und genießen die Melodie, die in einer Endlosschleife läuft. Es ist der Tango aus einer Episode des dialoglosen Films »Le Bal« (Der Tanzpalast, 1983), eine italienisch-französisch-algerische Koproduktion unter der Regie von Ettore Scola und mit Musik von Vladimir Cosma. Ein wunderbarer Film, der in einem unterirdischen Pariser Tanzlokal spielt und nur durch Mimik und Gestik der Tanzenden die Nachkriegs und Vorkriegszeit in den Jahren 1983–1936 in Rückblenden zum Ausdruck bringt. Alles ändert sich, die politische Situation, die Gesellschaft, die Mode, die Musik, der Geschmack. Nur eins bleibt konstant: die Sehnsucht nach Nähe, Liebe, Freiheit und der Tanz, der all das verkörpert. »Im ›Le Bal‹ habe ich drei Themen, die mich interessieren, vereint: Die Zeit, die Einsamkeit und die persönliche Geschichte. Daraus ergibt sich dann die offizielle Geschichte«, sagte Scola über seinen Film.
Rechercheurin, Regisseurin, Bühnenbildnerin
Das sind auch Themen, denen Zineb Sedira ihre Kunst widmet. Darin vermischen sich das Private und das Politische, die Vergangenheit und die Gegenwart. Alles fließt ineinander, die Zeit ist nicht linear, sie bewegt sich vorwärts und rückwärts, steht manchmal still in den alten Kulissen, die durch das Publikum zum Leben erweckt werden. Es ist ein Filmtheater, in dem die Künstlerin als Rechercheurin, Regisseurin, Bühnenbildnerin, Requisiteurin und Skripterin agiert. »Dreams Have No Titles« zeigen, wie eng ihre Beziehung zum Film, der wichtigsten aller Künste, ist. Sie verbrachte viel Zeit in den Archiven der algerischen Kinemathek und fand dort ein reiches Filmerbe, das in der Geschichte der filmischen Avantgarden der 1960er und 1970er Jahre kaum erwähnt wird. Nach dem Ende des algerischen Unabhängigkeitskriegs entstanden zahlreiche Koproduktionen, die einen Einfluss auf die postkoloniale Bewegung hatten. Dazu gehörte »Die Schlacht um Algier« (1966) des italienischen Regisseurs Gillo Pontecorvo. Ein Nachbau des Wohnzimmers aus diesem Film erfreut sich einer großen Beliebtheit beim Ausstellungspublikum.
Ein Salon aus Brixton macht in Berlin Station
Auch ein anderes Wohnzimmer, das für die Künstlerin von Bedeutung ist, steht an einer zentralen Stelle der Schau und wirkt filmreif. Es ist der Salon ihrer Wohnung im Londoner Stadtteil Brixton, wo sie seit Ende der 1980er Jahre lebt und den sie im Stil der Sixties eingerichtet hat mit allem, was ihr lieb und teuer ist: Lila Sitzgarnitur, stehende Topfpflanzen, Regale, Plakate, ein gerahmtes Titelblatt des Black Panthers Newspaper, Nippes, ein algerischer Wandteppich, ein folkloristischer Läufer auf dem Boden und zwei abstrakt gemusterte Kissen auf den Sesseln. Ein gediegener und kreativer Ort, an dem sie sich mit ihrem Freundeskreis trifft, um über Kunst und Leben zu sprechen, was sie oft zu neuen Projekten animiert.
Aus dem Salon direkt ins Kino
Hinter Zineb Sediras Salon, in dem man Platz nehmen und Musik aus den 1960ern und 1970ern hören kann, ließ sie einen alten Kinosaal nachbauen. Auf einer großen Leinwand wird dort der knapp 24-minütige Film ausgestrahlt, nach dem die Ausstellung benannt ist. Er spielt sowohl in ihrer Londoner Wohnung, als auch in den Filmsets. Die Erinnerungen der Künstlerin an den Rassismus und Demütigungen in Frankreich, an den Selbstmord ihrer Schwester, an das Kino als Refugium vor dem wahren Leben vermischen sich mit den Erinnerungen ihrer Freundinnen und Freunde, die Ähnliches erfahren haben und sich in antirassistischen, antikolonialen und emanzipatorischen Bewegungen engagieren. Sie schlüpfen auch in die Rollen aus den Filmen, die in den »Dreams Have No Titles« als Kulissen fungieren.
Was ist echt? Was ist falsch?
Es ist ein berührender, ernster und zugleich ein heiterer und ironischer Streifen mit Anspielungen auf die Filme, die für Zineb Sedira wichtig sind. Zum Beispiel auf »F wie Fälschung« (1973) von Orson Welles, ein Mix aus Dokumentation und Fiktion, in dem er zwei geniale Betrüger, den ungarischen Maler und Kunstfälscher Elmyr de Hory und den US-amerikanischen Schriftsteller Clifford Irving porträtiert, darüber hinaus der Schauspielerin Oja Kodar eine fiktive künstlerische Biografie als Muse und Modell von Picasso verpasst. Was ist Wahrheit, was ist Lüge, was ist echt, was ist falsch? Und überhaupt: Was hat das mit Kunst zu tun? Fragen über Fragen … Wer die Antworten weiß, soll sie weitertragen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Zineb Sedira
Dreams Have No Titles
24.02.2023 bis 30.07.2023
Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart
Invalidenstraße 50 – 51, 10557 Berlin
Di, Mi 10–18 Uhr; Do 10–20 Uhr; Fr, Sa, So 10 – 18 Uhr, Mo geschlossen
Eintritt: 12 / 6 EUR
Tango Aufführungszeiten:
Dienstag 10:30 bis 13:30 Uhr
Mittwoch 13:30 bis 16:30 Uhr
Donnerstag: 14:30 bis 17:30 Uhr
Freitag bis Sonntag: 13:30 bis 16:30 Uhr
Die Ausstellung wird von Yasmina Reggad sowie Sam Bardaouil und Till Fellrath,
Direktoren Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, kuratiert.
Sie treten auch im Film »Dreams Have No Titles« auf.