Die Erfolgsgeschichte der Ausstellung »Zur Nachahmung empfohlen! Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit« begann mit einem guten Omen: Am 3. September 2010, dem Tag ihrer Eröffnung, tobte ein kurzes Gewitter über den Berliner Uferhallen, die ursprünglich als Straßenbahndepot dienten und in den Jahren 1898-1931 im Ortsteil Wedding am Ufer der Panke erbaut wurden. Nach dem Schauer erstrahlte die Sonne, sodass sich ein großer Regenbogen bildete und lange am Himmel stehen blieb. Das war ein symbolträchtiger Auftakt zu der von Adrienne Goehler konzipierten und kuratierten Gruppenschau, die sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft auseinandersetzte und für einen verantwortlichen Umgang mit der Natur plädierte. Nach der ersten Station der Ausstellung in Berlin, an der sich fast 50 Künstlerinnen und Künstler beteiligten, von denen viele Kunst als wissenschaftliche Forschung betreiben, sollte sie drei Jahre lang durch Deutschland und die Welt touren. Dass daraus 13 Jahre wurden und sie das Laienpublikum und die Wissenschaft an 29 Ausstellungsorten, darunter Mumbai (Indien), Addis Abeba (Äthiopien), Peking (China), Sao Paolo (Brasilien), Puebla (Mexiko), Lima (Peru), Valparaíso (Chile), Jerusalem und Haifa (Israel) nachhaltig begeisterte und anregte, war einerseits eine Überraschung. Anderseits kam sie offensichtlich den Erwartungen der Menschen entgegen, die sich Gedanken über den Zustand der Welt machen und die sich fragen, was sie unternehmen können, um die Zerstörung unseres Planeten aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen.
Über den Tellerrand einzelner Disziplinen schauen
Es dauerte fast drei Jahre, um die Gelder für die Finanzierung der nachhaltigen Ausstellung – immerhin eine halbe Million Euro – aufzubringen. Das lag nicht so sehr an der Summe, sondern daran, dass die Sponsoren sich streng an ihre Zuständigkeiten halten und sich schwer tun mit Projekten, die Disziplingrenzen überschreiten. Während ihrer Arbeit als Präsidentin der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, als Berliner Senatorin für Wissenschaft, Bildung und Kultur und als Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds hat Adrienne Goehler die Erfahrung gemacht, dass Politiker nicht in Verantwortung, sondern in Zuständigkeiten denken. Doch sie glaubt, dass wir es uns nicht mehr leisten können, abgetrennte Bezirke und abgezirkelte Zuständigkeiten zu haben. Aus diesem Glauben ist die Idee eines Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit entstanden, in dem verschiedene Disziplinen wie Kunst, Design, Wissenschaft, Erfindungen und Aktivismus gebündelt, untersucht und als gemeinsame Projekte gefördert werden können: eine Werkstatt für transdisziplinäres Denken und Handeln.
Die Wanderausstellung »Zur Nachahmung empfohlen!« war ein Schritt in diese Richtung, ein Mittel zum Zweck: Sie sollte die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass es Sinn macht, eine Institution zu gründen, die ressortübergreifend und transdisziplinär arbeitet, die sozusagen über den Tellerrand einzelner Disziplinen schaut. Dass Künstler zugleich auch Wissenschaftler und Erfinder sein können, dürfte sich spätestens seit Leonardo da Vincis disziplinübergreifendem Wirken herumgesprochen haben.
Nach 13 Jahren wieder in den Uferhallen
Während die Einrichtung eines Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit noch viel Überzeugungsarbeit seitens seiner Urheberin erfordern wird, entwickelte sich die Ausstellung »Zur Nachahmung empfohlen!« zu einem internationalen Langzeitprojekt sondergleichen, an dem sich fast 140 Künstlerinnen und Künstler sowie Einzelpersonen und Gruppen beteiligten, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft arbeiten. An jedem neuen Ausstellungsort wurde sie modifiziert, den lokalen Bedürfnissen und Problemen angepasst, aktualisiert, mit neuen Namen und Werken ergänzt. Was unverändert blieb, war die Ausstellungsarchitektur aus recyceltem Material, die Ausstellungspublikationen (ein Katalog, ein Lesebuch, ein Malbuch für Kinder und eine Windrad-Bauanleitung) samt dazu gehöriger Tasche sowie die Pressemappen aus Recyclingpapier und Reißspinnstoff. Ihre letzte Station fand am Ursprungsort statt: In den besagten Uferhallen in Berlin-Wedding.
So schloss sich der Kreis, nur die »Expeditionen«, die anscheinend mit dem Kolonialismus in Verbindung stehen, wurden durch »Erkundungen« ersetzt. Also erkundeten die neun Wochen dauernde Exposition mit 89 künstlerischen Positionen, Gesprächsabenden, Performances und Workshops über 12.000 Menschen. Da der Eintritt frei war, lockte die Schau vor allem junges Publikum an, darunter auffallend viele Familien mit Kindern.
Katastrophen und erneuerbare Baustoffe
Die letzte Edition der rundum gelungenen Gruppenausstellung hatte vor und in der geräumigen Halle der ehemaligen Hauptwerkstatt an der Uferstraße in Wedding, wo bis 2006 Busse der Berliner Verkehrsbetriebe gewartet wurden, viel Platz, um weltbewegende Probleme zu visualisieren, wozu Klimaflucht, Wasserverschmutzung, Elektrosmog, verschwenderischer Energieverbrauch, durch Atomenergie verursachte Missbildung der Insekten, Genmanipulation, durch Biopiraterie bedrohte Biodiversität, Unmengen an Müll, die Versorgung der Kriegs- und Katastrophenopfer mit Nahrungsmitteln und Zelten als lukrativer Wachstumsmarkt gehörten. Eines der zentralen Themen waren darüber hinaus erneuerbare Baustoffe, die aus Pilzen, Schafwolle, Hanf oder Rinde produziert werden könnten.
Eine Rotunde aus Rinde und Kugeln, die klingen
Wenn man die Ausstellung betrat, drängte sich zuerst der Eindruck auf, an einem Ort zu sein, der einer Mischung aus Recyclingbörse und Trödelmarkt ähnelte. Was man sah, ohne sich in Inhalte und Autorenschaft zu vertiefen, waren fahrradähnliche Fortbewegungsmittel; eine mit Tretkraft betrieben Waschmaschine; eine Wasserfilteranlage; ein gläserner Sarg mit einem Unendlichkeitsbeerdigungsanzug, in den, wie man las, ein Unendlichkeitspilz integriert ist, um die Toten in Zukunft umweltfreundlich zu recyceln; ein großer Würfel aus Kohlebriketts; eine Ecke, in der sich Baumstämme aus Schaumstoff stapelten; viele kleine und bunte Kartonzelte; 40 mit Proviant gefüllte Matrosenhosen, die auf recycelten Paletten lagen; viele Plastiktüten; einige Zeichnungen mit Darstellungen deformierter Blattwanzen; aus Waffen gefertigte Spaten; grüne Äpfel aus Gips; eine Rotunde aus Rinde; ein Haus aus Hanf und eins aus Schur; hybride Vögel aus Kokosnussbaumrinde, Eisen und Plastik; ein Video mit einer Spirale aus Wassermelonen; eine Installation mit vielen weißlackierten Papierbooten und so weiter. Vor der Halle stand ein selbstgebasteltes Windrad aus Abfall. Neben dem Eingang lagen acht transparente Kugeln mit Solarzellen, aus denen Klänge nach außen drangen. Das Ganze sah aus wie das Bühnenbild für eine Neuinszenierung der »Dreigroschenoper«, wie eine Post-Peachum-Parabel an der Panke.
Produziert, konsumiert, auf Müllhalden deponiert
Der Eindruck vom Déjà-vu entstand , weil die sozialen, kulturellen und ökonomischen Zerfallsprozesse, die Brecht Ende der 1920er Jahre in seinem Meisterwerk exemplarisch in Szene setzte, am Anfang der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts nicht verschwunden sind. Sie sind sogar noch größer und fast unlösbar geworden. Die Probleme der heutigen Zeit werden von den Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen, denn die Kunst hielt schon immer der Gesellschaft einen Spiegel vor, registrierte Veränderungen, sah unheilvolle Entwicklungen voraus. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausstellung »Zur Nachahmung empfohlen!« haben mal ernst und mal ironisch gezeigt, dass es unserer Welt an Respekt vor der Natur fehlt, dass die Menschen sich selbst und ihre Umwelt zerstören, denn alles wird in Unmengen produziert, konsumiert, weggeworfen und auf giftigen Müllhalden deponiert. Es ist eine Welt, die verschwenderisch und auf Pump lebt, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass die Rechnung irgendwann bezahlt werden muss. Mit einem Cent, den Christin Lahr seit dem 25. Mai 2009 täglich per Online-Banking an das Bundesministerium der Finanzen überweist, oder mit »Time-Notes« (Zeitnoten), die der Argentinier Gustavo Romano seit 2004 in mobilen Zeitwechselstuben verkauft?
Endlicher Wald, ewiger Weizen
Nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Ökologie muss sich neuen Herausforderungen stellen. Für ihr Projekt »Museum of nature« entwirft Ilkka Halso Schutzräume, damit große Ökosysteme im heutigen Zustand überleben können. Doch was soll man schützen, wenn es, wie in der Installation »The End of the Forest« der israelischen Künstlerin Dina Shenhav zu sehen war, keinen Wald mehr gibt? Nicht nur der Wald, sondern auch die meisten Weizenarten verschwinden. Die über 60.000 Landrassen sind heute auf ein paar Duzend Hochertragssorten reduziert. In Samen- und Genbanken lagert die einstige Vielfalt, eingefroren und nummeriert. Die Installation »Ewiger Weizen« von Ursula Schulz-Dornburg bringt sie in Erinnerung: ein Archiv des gefährdeten Naturreichtums.
Sonnengesänge und Dermoherba
So viele Probleme und Fragen, dass man sich während der Erkundungen in Nachhaltigkeit und Ästhetik die eine oder andere Verschnaufpause gönnte. Beim Lauschen der Sonnengesänge, einer solaren Klangkugelinstallation von Marlen Liebau und Marcel Lingk zu Ehren des ersten Umweltpatrons Franz von Assisi, des heiligen Franziskus. Oder beim Betrachten und Lesen des Werks von Antal Lakner, der die Pflanzenart Dermoherba entwickelte, die auf der Epidermis gedeihen kann. Wenn in der Natur nichts mehr grünt, dürfen dann die Menschen eine grüne Haut tragen. Und jene, die über genügend Mittel verfügen, fliegen zu den Marsmännchen, um mit ihnen auf dem Ausweichplanten ein expansionslose Existenz voller Ästhetik und Nachhaltigkeit zu wagen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
ZUR NACHAHMUNG EMPFOHLEN! ZNE!expeditionen erkundungen in ästhetik und nachhaltigkeit
12.Mai 2023–16. Juli 2023
Uferhallen Berlin