Die Installation »Mechitza« von Zuzanna Hertzberg im KW Berlin ruft den noch immer unterschätzten Kampf jüdischer Frauen während der Shoah in Erinnerung.
Geschrieben und fotografiert von Urszula Usakowska-Wolff
Die Halle im ersten Stock der Kunst-Werke ist nur spärlich beleuchtet. Aus dem Halbdunklen tauchen allmählich weiße Bahnen auf, die mit schwarz-weißen Fotografien bedeckt sind. Darauf sind Einzel- und Gruppenporträts junger Menschen, Dokumente, handschriftliche Notizen, in Schutt und Asche gelegte Orte, Schriftzüge auf Englisch und Hebräisch zu sehen: »Sisters – Revange! You’ll Survive And Tell Our Story.« Die raumfüllende mehrteilige Installation in der Art eines begehbaren Archivs ist zugleich einfach und raffiniert. Sie ist nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, aus Papier, sondern aus Leinenlaken, auf die ebenfalls auf Leinen gedruckte, nachgeschärfte Fotos angenäht sind. Die Arbeit unter dem Titel »Mechitza. Individueller und kollektiver Widerstand der Frauen während der Shoah« stammt aus der Hand von Zuzanna Hertzberg und ist für mich eines der bewegendsten Kunstwerke der 12. Berlin Biennale.
Aktuelle Kunst, die aus dem Archiv kommt
Zuzanna Herzberg (* 1981 in Warschau) ist eine interdisziplinäre Künstlerin: Malerin und Performerin, zu deren Repertoire auch Textilarbeiten, Collagen und Assemblagen gehören. Sie betreibt aktivistische Kunst, bevorzugt im öffentlichen Raum, klärt das Publikum über ihre Inhalte und Absichten auf, ohne dabei schulmeisterlich zu wirken. Sie glaubt daran, dass Kunst zur Erziehung und Bildung der Gesellschaft beitragen kann. Ihr Interesse gilt den Minderheiten, die von der Mehrheit marginalisiert, folklorisiert und klischeehaft dargestellt werden. Im Focus ihrer künstlerischen Praxis, die sie wie einen Forschungprozess betreibt, stehen vor allem jüdische Widerstandskämpferinnen, welche von der polnischen Geschichtspolitik verschwiegen oder nicht gebührend gewürdigt werden. Dazu gehören Kämpferinnen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, denen sie in der Vergangenheit viele Kunstwerke widmete.
Ihre auf der 12. Berlin Biennale präsentierte Installation ist das Ergebnis eines 2017 begonnen Projekts, wozu sie das Gespräch mit einem polnischen Historiker bewog: Er meinte nämlich, dass es während der Shoah keinen militanten Widerstand jüdischer Frauen gab, denn sie haben sich vor allem um das Überleben ihrer Familien gekümmert. Da Zuzanna das nicht glauben konnte und wollte, fing sie an, in polnischen und israelischen Archiven zu forschen, wo sie Dokumente über vergessene jüdische Kämpferinnen fand. Sie holte ihre individuellen Geschichten aus der Versenkung und vergegenwärtigte sie, um zu zeigen, wie gut und warum sie so gut organisiert waren und welche Schlüsse daraus für die Entstehung einer nicht hierarchischen, verantwortungsvollen und resilienten Gesellschaft in der Gegenwart und für die Zukunft gezogen werden können.
Kollektive und Netzwerke
Die in der Mitte der Halle hängenden Leinenbahnen beziehen sich auf Mechitza, eine Wand, Mauer, Absperrung oder ein Vorhang, die in einer Synagoge Frauen von Männern räumlich trennt. »Es ist nicht nur ein Symbol, sondern ein sichtbares Zeichen der Teilung, die immer noch Konflikte in unserer Welt schürt«, sagt Zuzanna Hertzberg. Doch, unabhängig davon, ob die jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer aus orthodoxen, konservativen, liberalen oder atheistischen Familien stammen, gab es zwischen ihnen im Alltag keine Geschlechtertrennung. Schon in Vorkriegspolen war das kollektive jüdische Leben sehr ausgeprägt und rege: die Jugendlichen wirkten in zahlreichen Pfadfinderorganisationen und Verbänden, jene aus der zionistischen Bewegung bereiteten sich auf die Einwanderung ins Britische Mandatsgebiet (Palästina) vor und lernten Ackerbau. Die politischen Sympathien oder Überzeugungen spielten kaum eine Rolle: Junge Menschen und Erwachsene wussten, wie sie sich im Kollektiv zu verhalten haben und dass sie in kritischen Situationen nicht allein gelassen werden. Sie knüpften umfangreiche und nachhaltige Netzwerke. Darüber hinaus war die Bildung von großer Bedeutung. »Weil zum Beispiel in den religiösen Familien die Söhne eine angemessene Bildung bekommen sollten, wurden sie in traditionelle, religiös geprägte Schulen, die Töchter in polnische Schulen geschickt«, sagt Zuzanna Herzberg. »Die Folge war, dass die Mädchen aus dem orthodoxen Umfeld fließend Polnisch und nicht nur Jiddisch sprachen und auch in der Nazizeit Kontakte zu ihren Bekannten und Freundinnen aus der Schulzeit hatten.«
Mit Tichel, Davidstern und Korralen
Zuzanna Hertzberg hat die seltene Gabe, nicht auf Anhieb erkennbare Zusammenhänge auf eine einfache und vielleicht deshalb so überzeugende Weise zu veranschaulichen. Ihre Vorträge, die sie Erzähl-Performances nennt, sind Teil der Installation und beeindrucken durch Klarheit und Stringenz, expressive Gestik und Mimik. Auch sonst ist die Künstlerin nicht zu übersehen: Sie trägt ein Tichel, eine Goldkette mit Davidstern, goldene Korral-Ringe und Armbänder. Auf diese Weise spielt sie einerseits mit den Klischees, die mit Jüdinnen und Roma-Frauen verbunden sind, solidarisiert sich andererseits mit ihrer Tradition.
Für »Mechitza« hat sie Geschichten und Fotos der jüdischen Kämpferinnen zusammengetragen: von Mädchen und junge Frauen mit strahlenden, glücklichen, nachdenklichen oder verträumten Gesichtern. Manche tragen Zöpfe, haben helle oder dunkle, glatte oder gewellte Haare. Sie wissen noch nicht, welche schrecklichen Erlebnisse ihnen bevorstehen. Als die deutschen Besatzer Polens sie in Ghettos und Konzentrationslagern einschließen, finden sie sich mit ihrer Lage nicht ab, kämpfen oder betätigen sich als Botengängerinnen und halten Kontakte zur »arischen« Seite aufrecht. Zuzanna Hertzberg sagt, dass die Frauen geradezu prädestiniert waren, solche Aufgaben zu übernehmen. Im Gegensatz zu den Männern, die beschnitten waren, konnten sie schwer als Jüdinnen identifiziert werden und bewegten sich relativ frei außerhalb der Ghettos. Ihres jungen Alters und des ungebrochenen Wiederstands wegen wurden die jüdischen Kämpferinnen »Dziewuchy (Gören)« genannt.
Frauen leisten Unvorstellbares
Zuzanna ruft über ein Dutzend von ihnen in Erinnerung: Cywia Lubetkin (1914–1978), Fajga (Fela) Talman (1914–1944), Tema Sznajderman (1917–1943), Gusta Dawidsohn-Dränger (1917–1943), Niuta Tajtelbaum (1917–1943), Tosia Altman (1919–1943), Guta Kawenoki (1919–1944), Chaika Grossmann (1919–1996), Regina Fudem (1922–1943) sowie die Frauen, die sich am Widerstand im KZ Auschwitz-Birkenau beteiligten und dafür am 6. Januar 1945, kurz vor der Befreiung des Lagers, gehängt wurden: Róża Robota (* 1921), Ala Gertner (* 1912), Ester Wajcblum (* 1924) und Regina Safirsztajn (* 1915). All die Frauen, denen Zuzanna Hertzberg ihre Installation widmet, haben Unvorstellbares geleistet: Sie kämpften in den Ghetto-Aufständen, besorgten Waffen, beteiligten sich an der Sprengung der Bahnlinien und gaben, trotz brutalsten Folterungen durch die Gestapo, die Namen der anderen Widerstandskämpferinnen und Kämpfer nicht preis. Gusta Dawidsohn-Dränger flüchtete wiederholt aus strengstens bewachten Gefängnissen der Gestapo. Niuta Tajtelbaum, genannt »die kleine Wanda mit den langen Zöpfen«, erschoss mehrere NS-Offiziere in Warschau, einen sogar in seiner eigenen Wohnung. Das waren Heldinnen, »über deren Gräbern du nicht weinen sollst. Weine nicht und bemitleide sie nicht. Es ist nicht das Mitleid, das du der Welt geben sollst, sondern Taten, die die Menschheit vom Albtraum der Unterdrückung und Versklavung befreien.« Dieses Zitat, das von Chaika Grossman stammt, steht auf der Rückseite einer Fahne, auf deren Vorderseite sie als Organisatorin und Anführerin des Aufstandes im Ghetto von Białystok gewürdigt wird. Die Shoah-Überlebende zog 1948 nach Israel, wo sie Politikerin der Arbeiterpartei Mapam, Abgeordnete und Vizepräsidentin der Knesset wurde.
Diese und andere Geschichten werden von Zuzanna Hertzberg visualisiert und erzählt, weil sie damit nicht einverstanden ist, dass den kämpfenden Frauen von der historischen Politik und in den Schulbüchern bestenfalls die Rolle von Assistentinnen der Männer zugewiesen wurde. »Ich möchte die Geschichte so fortsetzen und darstellen, dass sie wahr wird und nicht stirbt.« Und mit der Skulptur »Schechina«, die in einer Ecke unter der Decke hängt, weist sie auf die verschwiegene weibliche Dimension Gottes hin.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Zuzanna Hertzberg
Mechitza. Individueller und kollektiver Widerstand der Frauen während der Shoah
11. 0–18.09.2022
Berlin Biennale for Contemporary Art
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